3.8Jesus und das Gesetz: Der Wille zum Guten
K.BERGER, Die Gesetzesauslegung Jesu, WMANT 40, Neukirchen 1972; H.HÜBNER, Das Gesetz in der synoptischen Tradition, Göttingen 21986; M.HENGEL, Jesus und die Tora, ThBeitr 9 (1978), 152–172; U.LUZ, Jesus und die Tora, EvErz 34 (1982), 111–124; P.FIEDLER, Die Tora bei Jesus und in der Jesusüberlieferung, in: K.Kertelge (Hg.), Das Gesetz im Neuen Testament, QD 108, Freiburg 1986, 71–87; I.BROER (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart 1992; D.KOSCH, Die eschatologische Tora des Menschensohnes, NTOA 12, Fribourg/Göttingen 1989; J.BECKER, Jesus von Nazareth (s.o. 3), 337–387; I.BROER, Jesus und die Tora, in: L.SCHENKE (Hg.), Jesus von Nazareth – Spuren und Konturen (s.o. 3), 216–254; J. P. MEIER, A Marginal Jew IV (s.o. 3), 26–477.
Das Verhältnis Jesu zur Tora gehört nicht zufällig zu den umstrittensten Themen ntl. Theologie. Hier verbinden sich exegetische Einschätzungen mit politischen, kulturellen und religiösen Einstellungen (persönliches Verhältnis zum Judentum, Geschichte des Judentums im 20.Jh., christlich-jüdisches Gespräch) und führen zu hochemotionalen Positionen. Während in der älteren Exegese das Bedürfnis vorherrschte, Jesus dem Judentum gegenüberzustellen oder ihn zumindest innerhalb des Judentums herauszustellen224, dominiert in der neueren Exegese der Wunsch, Jesus möglichst nahtlos in die Vielgestaltigkeit des Judentums einzupassen225. Beide Strategien sind tendenziös, denn sie halten nicht die Spannung aus, Jesus innerhalb des Judentums zu interpretieren und zugleich aufzuzeigen, wie es zu den Konflikten Jesu mit jüdischen Gruppen/Autoritäten und zu seiner Wirkungsgeschichte innerhalb des sich formierenden frühen Christentums kam.
3.8.1Gesetzestheologien im antiken Judentum
Die überragende Stellung der Tora innerhalb des antiken Judentums steht außer Frage226. Allerdings gab es immer differente Auslegungen der Tora und damit auch verschiedene Gesetzestheologien227. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang die Herausbildung der Pharisäer, Sadduzäer und Essener im weiteren Kontext der makkabäischen Erhebung (vgl. 1Makk 2,15–28)228. Josephus sieht im Traditionsverständnis die Eigenart der Pharisäer229 und zugleich den wichtigsten Unterscheidungspunkt zu den Sadduzäern: „Jetzt möchte ich nur deutlich machen, daß die Pharisäer dem Volk Bestimmungen (νόμιμα) aus der Nachfolge der Väter (ἐϰ πατέρων διαδοχῆς) weitergegeben haben, die nicht in den Gesetzen des Mose aufgeschrieben sind, und deswegen verwerfen sie die Gruppe der Sadduzäer, die sagt, dass man sich nur an jene Bestimmungen halten soll, die geschrieben sind, die aus der Überlieferung der Väter aber nicht beachten soll“ (Ant 13,297). Inhalt der Paradosis dürften in neutestamentlicher Zeit Reinheitsvorschriften (vgl. Mk 7,1–8.14–23; Röm 14,14), Regelungen des Zehnten (vgl. Mt 23,23) und besondere Formen von Gelübden (vgl. Mk 7,9–13) gewesen sein. Nach Jos, Vita 191, standen die Pharisäer hinsichtlich der väterlichen Gesetze in dem Ruf, „sich von den anderen durch genaue Kenntnis zu unterscheiden“ (τῶν ἄλλων ἀϰριβείᾳ διαφέρειν). Sie waren frommer als die anderen „und beachteten die Gesetze gewissenhafter“ (ϰαὶ τοῦς νόμους ἀϰριβέστεραν ἀφηγεῖσϑαι)230. Ziel der pharisäischen Bewegung war die Heiligung des Alltags durch eine umfassende Gesetzesbeobachtung, wobei der Einhaltung der rituellen Reinheitsvorschriften auch außerhalb des Tempels eine besondere Bedeutung zukam. Deshalb wurde die Tora teilweise fortgeschrieben, um den vielfältigen Alltagssituationen gerecht zu werden (vgl. z.B.Arist 139ff; Jos, Ant 4,198; Mk 2,23f; 7,4). Bedeutsam war die Abspaltung einer radikalen Richtung innerhalb der Pharisäer, die sich selbst im Anschluss an Pinhas (Num 25) und Elia (1Kön 19,9f) Zeloten (οἱ ζηλωταί = „die Eiferer“) nannten. Diese Gruppe bildete sich 6 n.Chr. unter Führung des Galiläers Judas von Gamala und des Pharisäers Zadduk (vgl. Jos, Ant 18,3ff). Die Zeloten zeichneten sich durch eine Verschärfung des ersten Dekaloggebotes, strenge Sabbatpraxis und eine rigorose Einhaltung der Reinheitsgebote aus231. Sie strebten eine radikale Theokratie an und lehnten die römische Herrschaft über das jüdische Volk aus religiösen Gründen ab. Über das Toraverständnis der Sadduzäer lassen sich nur vage Aussagen machen; sie lehnten die Sondertraditionen der Pharisäer ebenso ab wie die Auferstehung von den Toten und Engellehren (vgl. Mk 12,18–27; Apg 23,6–8). Die Konzentration auf die schriftliche Tora schloss bei ihnen eine strengere Haltung bei Rechtsfragen als bei den Pharisäern mit ein (vgl. Jos, Ant 18,294; 20,199)232. Die Essener vertraten vor allem nach dem Zeugnis der in Qumran gefundenen Schriften ebenfalls ein sehr strenges Toraverständnis233 und nahmen für sich ein besonderes Wissen um die wahre Auslegung und Bedeutung der Tora in Anspruch: „Aber mit denen, die an den Geboten Gottes festhielten, die von ihnen übrig waren, hat Gott seinen Bund für Israel aufgerichtet für immer, um ihnen verborgene Dinge zu offenbaren, worin ganz Israel in die Irre gegangen war: seine heiligen Sabbate und seine herrlichen Festzeiten, seine gerechten Zeugnisse und die Wege seiner Wahrheit und die Wünsche seines Willens – die der Mensch erfüllen muss, damit er durch sie lebe – hat er ihnen aufgetan“ (CD III 12–16; vgl. VI 3–11). Diese besonderen Einsichten betrafen vor allem Kalender- und Sabbatfragen, hinzu kamen zahlreiche Einzelvorschriften für das Leben in der Gemeinschaft. Zudem lassen gerade die in Qumran aufgefundenen Texte erkennen, dass die Tora und ihre Auslegung keine abgeschlossenen Größen waren234; so gibt z.B. die Tempelrolle Pentateuchtexte nicht nur in sprachlich stilisierter Form und neuer Anordnung wieder, sondern sie enthält auch neue Gebote ohne Anhalt am Pentateuch.
Während die Essener strikt alles Heil an das Dasein im Heiligen Land banden, stellte sich für das hellenistische Judentum in der Diaspora die Situation völlig anders dar. Im Kontext der allgegenwärtigen hellenistischen Kultur musste sich das Judentum öffnen, um seine Identität wahren zu können. Die Tora erfuhr innerhalb dieser Entwicklung gleichzeitig eine Universalisierung und Ethisierung, indem sie zur Schöpferweisheit und Lebensordnung wurde235. Der Mensch entspricht der Tora als dem universalen Sittengesetz, weil seine Befolgung zu einem Leben in Vernunft, Harmonie und Frieden mit Gott, den Menschen und sich selbst führt. So wird die Tora in ihrer Konzentration auf wenige Gebote zu einer Form der Tugendlehre, die in hellenistischer Begrifflichkeit zum Ausdruck gebracht werden kann. Bedeutsam ist das Gesetzesverständnis Philos, bei dem die Sinai-Tora, die Schöpfungstora und das Naturgesetz zu einer Einheit verschmelzen236. Auf den atl. Schöpfergott gehen nach Philo sowohl die φύσις als Weltprinzip als auch die Tora zurück, so dass beide zusammengedacht werden müssen. Weil Weltschöpfung und Gesetzgebung „im Anfang“ zusammenfallen, ist das Naturgesetz ebenso göttlichen Ursprungs wie die Tora: „Dieser Anfang ist höchst bewunderungswürdig, da er die Weltschöpfung schildert, um gleichsam anzudeuten, dass sowohl die Welt mit dem Gesetz als auch das Gesetz mit der Welt in Einklang steht und dass der gesetzestreue Mann ohne weiteres ein Weltbürger ist, da er seine Handlungsweise nach dem Willen der Natur regelt, nach dem auch die ganze Welt gelenkt wird“ (Op 3). Die schriftliche Sinaitora ist ihrem Wesen nach viel älter, denn sowohl Mose als das ‚lebende Gesetz‘237 als auch die Vorstellung von νόμος ἄγραφος („ungeschriebenes Gesetz“; vgl. Abr 3–6) erlauben es Philo, über den Gedanken einer protologischen Schöpfungstora die zeitliche und damit auch sachliche Kontinuität des Handelns Gottes zu betonen. Durchgängig interpretiert Philo die Einzelgesetze als Ausformungen der Zehn Gebote, die wiederum mit dem Naturgesetz verwoben sind. Über den Gedanken der Sittlichkeit vollzieht Philo durch die Ethisierung des Naturgesetzes und der Einzelgesetze der Tora einen großen Synthetisierungsversuch von jüdischem und griechisch-hellenistischem Denken.
Ein weiteres Beispiel für die Vielgestaltigkeit jüdischen Gesetzesverständnisses sind die bei Philo erwähnten Allegoristen (Migr 89–93). Sie gaben den Gesetzen einen symbolischen Sinn und vernachlässigen die wortwörtliche Befolgung. Im Rahmen der Kritik an dieser Position erwähnt Philo auch die Beschneidung, die von den Allegoristen offenbar nur noch als symbolischer Akt aufgefasst wurde: „Auch weil die Beschneidung darauf hinweist, dass wir alle Lust und Begierde