Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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      In der jüdischen Apokalyptik fungiert die Tora vor allem als Gottes Gerichtsnorm; ein radikaler Gesetzesgehorsam verbindet sich mit der Hoffnung auf Gottes zukünftiges Heil, das den gegenwärtigen Verhängniszustand ablösen wird239.

      Bedeutsam ist schließlich der geographisch/klimatische Raum des Wirkens Jesu, denn Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich immer in geographischen und sozialen Räumen, die unausweichlich das Denken mitbestimmen240. Jesus trat fast ausschließlich um den See Genezareth241 herum auf, den ein mediterranes Klima auszeichnet und der eine Lebensart ermöglichte, die vor allem im Gegenüber zu den gebirgigen Regionen Israels als leicht und angenehm zu bezeichnen ist. Galiläa war z.Zt. Jesu keineswegs unjüdisch, hatte aber zweifellos ein eigenes kulturelles und religiöses Profil242. Es ist kaum vorstellbar, dass Jesus die (im Neuen Testament nicht erwähnten) hellenistisch geprägten Städte Sepphoris243 und Tiberias nicht kannte, zumal städtisches Milieu in Q 12,58f vorausgesetzt ist (vgl. auch Mt 6,2.5.16; Mk 7,6; Lk 13,15; Lk 19,11ff)244. Das Zusammentreffen und Zusammenleben mit Nichtjuden gehörte in Galiläa sicherlich zum Alltag, und anders als in Jerusalem dürften die Probleme der rituellen Reinheit großzügiger gehandhabt worden sein. Zudem fehlten mit der geringen Präsenz von Pharisäern die motivierenden Kontrollinstanzen. Wenn Jesus den Hauptmann von Kapernaum als Glaubensvorbild für Israel hinstellt (Mt 8,10b/Lk 7,9b), dann illustriert er dadurch seine über den bloßen Kontakt hinausgehende positive theologische Bewertung einzelner Heiden. Jesu Offenheit gegenüber Nichtjuden und seine Distanz gegenüber einer diskriminierenden Torapraxis dürfte auch mit seinem galiläischen Wirkraum zusammenhängen.

      Wie zeichnet sich Jesus von Nazareth in diese Vielgestaltigkeit jüdischer Gesetzestheologie ein? Ein zentraler Text zur Beantwortung dieser Fragen sind die Antithesen der Bergpredigt (s.o. 3.5.2). Die antithetischen Formulierungen sind innerhalb des antiken Judentums in dieser Form neu, es gibt dafür keine exakten Parallelen245. Das entscheidende theologische Problem ist, wer/was mit dieser Redeform in welchem Sinn interpretiert/kritisiert wird. Die Passivform ἐρρέϑη („es wurde gesagt“) dürfte sich auf das Sprechen Gottes in der Schrift beziehen, die „Antithesenformeln stellen also das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber.“246 Damit befindet sich Jesus selbst innerhalb der unabgeschlossenen Torainterpretation des Judentums, zumal die Antithesen mit Ausnahme des absoluten Gebotes der Feindesliebe nichts formulieren, was nicht auch (mehr oder weniger) Parallelen im Judentum hat247. Entscheidend ist aber der mit dem emphatischen „ich aber sage euch“ verbundene Anspruch: Jesus leitet seine Autorität nicht aus der Schrift ab, sondern sie liegt in dem, was er sagt. „Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.“248 Verständlich wird dieser Anspruch nur auf dem Hintergrund von Jesu Gottesreichbotschaft: Mit dem Anbruch des Gottesreiches setzt sich eine neue Realität durch. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, endgültig, radikal proklamiert249. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht; er leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, sondern der von Jesus im Anbruch des Gottesreiches proklamierte Gotteswille ist die letzte Autorität. Jesus hebt damit nicht die Tora auf, er denkt und argumentiert aber auch nicht von der Tora her, was einer faktischen Relativierung der Tora entspricht.

      Rein und unrein

      Ähnliches lässt sich für Jesus in seiner Haltung zu rituellen Fragen feststellen. Schon das Jesuswort „ich bin nicht gekommen, die Gerechten zu berufen, sondern die Sünder“ (Mk 2,17) zeigt, dass Jesus die Gerechtigkeit, und damit den Anspruch des Gesetzes, zwar nicht bestreitet, aber dem Gesetz nicht die Macht zuschreibt, gegenwärtig den Zugang zu Gott zu bestimmen. Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit, aber Gott liebt nicht nur die Gerechten. Gottes Liebe, die Jesus in der Ankunft des Gottesreiches verkündigt, überbietet die früher Israel geschenkte Liebe in Gestalt der Tora. Eine Berührung mit einem Aussätzigen, die in Mk 1,41 beiläufig berichtet wird, verunreinigt in höchstem Maße. Ähnliches gilt für die Heilung der Blutflüssigen (Mk 5,25–34) oder der Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–30). Jesus hatte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes zu allen Menschen, insbesondere auch den religiös Deklassierten, darauf hin, dass religionsgesetzliche Ordnungen, die in Israel im Namen Gottes galten, obsolet wurden.

      Auch Mk 7,15 ist in diesem Kontext zu verstehen; hier verbinden sich die für Jesus charakteristische schöpfungstheologische Argumentation mit seiner eschatologischen Grundperspektive. Von Beginn der Schöpfung an bestand die Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ nicht, sondern erst in Gen 7,2 erfolgt unvermittelt die Trennung von reinen und unreinen Tieren. Die Reinheitsvorschriften als Legitimation religiöser Ab- und Ausgrenzung haben für Jesus ihre Bedeutung verloren, weil für ihn die Unreinheit aus einer anderen Quelle kommt: „Nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineinkommt, kann ihn verunreinigen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das verunreinigt den Menschen“ (Mk 7,15). Für die Authentizität250 von Mk 7,15 sprechen die Form des antithetischen Parallelismus, die Möglichkeit der Rückübersetzung, die isolierte Stellung im unmittelbaren Kontext, die Varianten in Mk 7,18b.20, die Aufnahme von Mk 7,15 in Röm 14,14 als Herrenwort und schließlich die unableitbare Neuheit251. Ist schon die konkrete Stoßrichtung dieses Wortes nicht mehr sicher auszumachen, so sind sein Sinn und seine Bedeutung heftig umstritten. Der ursprüngliche Sinn von Mk 7,15 dürfte im Gegensatz zum markinischen Verständnis kaum auf den rituellen Bereich einzuschränken sein, denn τὰ ἐϰ τοῦ ἀνϑρώπου ἐϰπορευόμενα („was aus dem Menschen herauskommt“) in V. 15b lässt eine derartige Engführung schwerlich zu. Damit können nicht nur rituell verunreinigende Speisen gemeint sein, sondern Jesus umschreibt mit diesen Worten, dass alles aus dem Menschen Kommende, Gedanken wie Taten, ihn vor Gott unrein machen kann252. Jesus lässt den Gedanken der Unreinheit vor Gott formal zwar nicht fallen, aber er verneint, dass eine solche Unreinheit in irgendeiner Form von außen auf den Menschen zukommen kann. Dies bedeutet eine faktische Relativierung der Reinheitsgesetze Lev 11–15. Jesus stellt sich damit auch in einen Gegensatz zu den Pharisäern, Sadduzäern und Qumran-Essenern, für die kultisch-rituelle Normen trotz einer z. T. unterschiedlichen Praxis von essentieller Bedeutung waren, denn sie fungierten nicht nur als sichtbares Unterscheidungsmerkmal zu den Heiden und den religiös Gleichgültigen des eigenen Volkes, sondern waren Ausdruck ihres Toragehorsams und der immerwährenden Gültigkeit des durch Mose überlieferten Gotteswortes253. Mk 7,15 ist also in einem exklusiven Sinn zu verstehen254 und hat eine die Tora faktisch relativierende Bedeutung, keinesfalls handelt es sich nur um eine Vorordnung des Liebesgebotes gegenüber den Reinheitsvorschriften255. Bereits Paulus verstand dieses Jesuswort in einem torakritischen Sinn (Röm 14,14)256, und auch bei Jesus selbst finden sich Parallelen. Neben seinem Umgang mit kultisch Unreinen, seiner Pharisäerkritik (vgl. Lk 11,39–41; Mt 23,25) und den Sabbatheilungen ist hier vor allem Q 10,7 zu nennen, wo Jesus seinen Jüngern in der Aussendungsrede aufträgt, alles zu essen und zu trinken, was man ihnen vorsetzt. So wie angesichts des kommenden Reiches Gottes die Gegenwart keine Zeit des Fastens ist (vgl. Mk 2,18b.19a; Mt 11,18f/Lk 7,33f), so haben auch die Speisegesetze ihre Bedeutung für das Verhältnis des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander verloren. Die vom Schöpfer gewollte Reinheit des Menschen lässt sich nicht instrumentalisieren, vielmehr betrifft sie die ganze Existenz des Menschen. Die Geschöpflichkeit des Menschen kommt nicht in der religiösen bzw. sozialen Separation zum Ziel, sondern in der wahrhaftigen Annahme des vom Schöpfer geschenkten Lebens.

      Der Sabbat

      In dieselbe Richtung weisen die Sabbatheilungen, die ebenfalls auf eine Wiederherstellung der Schöpfungsordnung zielen; so das Jesuswort Mk 2,27, wonach der Sabbat um des Menschen willen, nicht aber der Mensch um des Sabbats willen geschaffen wurde257. In Mk 2,27 verweist insbesondere ἐγένετο („es ist geschaffen“) auf den Schöpferwillen Gottes zurück. Die Sabbatheiligung dient dem Menschen, indem sie ihn von der Geschäftigkeit des Alltags und damit auch von sich selbst wegreißt, um Zeit für die alles entscheidende Gottesbeziehung zu schaffen. Bereits in der priesterlichen Schöpfungsgeschichte