Im Gleichnis vom verlorenen Schaf dominiert der Gedanke der Freude über das Finden des Verlorenen122. Sowohl die Gegenüberstellung von 1 und 99 als auch das ungewöhnliche Verhalten des Hirten, die 99 Schafe allein zurückzulassen, dienen dazu, den Schmerz über den Verlust und die Freude über das Wiederfinden zum Ausdruck zu bringen. Das Gleichnis vom verlorenen Schaf ist auf Zustimmung aus; so wie der Hirte würde sich jeder verhalten123. Im Gleichnis von der verlorenen Drachme überrascht das intensive Suchen der Frau. Unwillkürlich vollzieht der Hörer die sich im Gleichnis ereignende Dynamik mit und kann in die Freude über das Wiederfinden einstimmen.
Auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16)124 bringt Jesus die Existenz des Menschen coram Deo zur Sprache. Bewegung kommt in die Erzählung durch die ungewöhnliche Anordnung des Gutsherrn, mit der Auszahlung bei den zuletzt Eingestellten zu beginnen (V. 8b). Die Ersten bewältigen die durch das atypische Verhalten des Gutsherren hervorgehobene Krise zunächst durch die Hoffnung auf einen entsprechenden Zuschlag. Als sich diese Erwartung nicht erfüllt, werfen sie dem Gutsherrn eine ungerechte Behandlung vor (V. 11f). Der Gutsherr reagiert auf ihre – durchaus verständliche (V. 12!) – moralische Empörung mit dem Hinweis, dass er den Arbeitsvertrag eingehalten habe und in seinem Verhalten gegenüber den Letzten frei sei. In der Antithetik von Gutsherrn und Ersten offenbaren sich zwei Seinsweisen: die Ordnung des Lohnes und die Ordnung der Güte. Das Denken der Ersten ist bestimmt von dem gerechten Verhältnis von Arbeit und Lohn. Wer mehr als andere arbeitet, darf auch mehr Lohn beanspruchen. Nach diesem Grundsatz fechten die Ersten die Lohnauszahlung an. Der Gutsherr freilich kann auf die eingehaltene Abmachung verweisen, so dass nun plötzlich die Kläger zu Beklagten werden. Ihr Denken in der Kausalität von Arbeit und Lohn gibt ihnen nicht das Recht, die Letzten und den Gutsherrn zu kritisieren. Der Gutsherr ist frei in seiner unerwarteten, alle Dimensionen sprengenden Güte, die niemandem Unrecht tut, zugleich aber viele unerwartet beschenkt. Diese Güte unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung, wie das monoton wiederholte Arbeitsangebot über den gesamten Tag hinweg zeigt. Jede Zeit erscheint als die rechte Zeit, das Angebot zu ergreifen. Dies können die Ersten nicht begreifen, denn sie verstehen ihre Einstellung nicht als gütige Annahme, sondern als eine selbstverständliche und leistungsbezogene Abmachung. Der Gutsherr dagegen gewährt allen und zu jeder Zeit eine Existenzgrundlage. Seine Freiheit ist nicht begrenzt, seine Güte nicht berechnend. Damit bringt Jesus durch die Parabel Gott als den zur Sprache, der den Menschen annimmt und ihm das Notwendige zum Leben gibt. Der Mensch wiederum lernt sich als ein Angenommener zu verstehen, dessen Existenz sich nicht aus der eigenen Leistung, sondern aus der Güte Gottes definiert.
Gottes voraussetzungslose Vergebung illustriert Jesus in der Parabel vom Schalksknecht (Mt 18,23–30.31.32–34.35) in geradezu anstößiger Weise125. Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Schuldnerverhältnis, das deutlich hyperbolische Züge aufweist. Die geschuldete Geldsumme (100 Millionen Denare)126 ist unvorstellbar hoch, wodurch die Stellung und das Verhalten des Herrn und des Knechtes in einem besonderen Licht erscheinen. Eigentümliches wird vom Herrn berichtet, der über das Angebot seines Knechtes weit hinausgeht, Erbarmen hat und ihm alle Schulden erlässt. Als unvorstellbar muss auf diesem Hintergrund das in V. 28–30 geschilderte Verhalten des Knechtes erscheinen. Obwohl ihm selbst gerade grenzenlose Barmherzigkeit widerfuhr, handelt er wegen eines lächerlich kleinen Betrages an einem Mitknecht unbarmherzig. Der Mensch erscheint in der Parabel vor Gott als ein Schuldner, dessen Schuld so unvorstellbar groß ist, dass er sie sogar mit dem Verkauf seiner eigenen Existenz nicht begleichen kann. In seiner Not wendet sich der Mensch zu Gott hin und bittet ihn um Geduld. Gott gesteht dem Menschen nicht nur einen Aufschub zu, sondern vergibt ihm ohne jede Vorbedingung seine unermessliche Schuld. In diesem unerwarteten, ja unbegreiflichen Akt der Annahme des Menschen erweist Gott seine Liebe und Barmherzigkeit. Er gewährt dem Menschen nicht einfach nur Zeit, um sich aus seiner prekären Situation zu befreien, denn dies wäre ein völlig aussichtsloser Versuch. Vielmehr schenkt Gott durch die Vergebung dem Menschen das Leben neu. Gott kommt dem Menschen zuvor, indem er ihn unverdient begnadigt.
Jesu Gleichnisse/Parabeln weisen über sich hinaus, sie wollen den Hörer zu der Einsicht drängen, dass es in den Gleichnissen um nichts anderes als um sein eigenes Leben geht. Dem Hörer werden Identifikationsmöglichkeiten geboten, er wird zu Grundentscheidungen geführt, um sein Leben zu ergreifen und zu verändern. Die Gleichnisreden wollen die unmittelbare heilsame Nähe der Gottesherrschaft herstellen, damit aus Verlorenen Gerettete werden.
Wort und Tat
Jesu Botschaft von der voraussetzungslosen Annahme des Menschen durch Gott wird durch seine Praxis der Hinwendung zu Sündern und Zöllnern verdeutlicht. Dieses Verhalten brachte ihm offensichtlich bald den Ruf ein, ein Freund der Zöllner und Sünder, ein Fresser und Säufer zu sein (vgl. Q 7,33f). Für Jesus sind Sünder und Zöllner nicht für immer Verlorene, sondern in Jesu Verkündigung und Verhalten findet ein Wiederfinden statt, das Anlass zur Freude ist. Die Sünden der Vergangenheit haben ihre trennende und belastende Funktion verloren, ohne dass vom Menschen eine Vorleistung erbracht wird. Vielmehr lebt der Sünder von der Vergebung Gottes, seiner grundlosen Annahme127. Deshalb bedeutet die Ankunft des Gottesreiches die Gegenwart der Liebe Gottes. Der verborgene Anfang des Gottesreiches geschieht in Gestalt überwältigender, schrankenloser Liebe Gottes zu den Menschen, die sie nötig haben, und will in Gestalt ebensolcher Liebe unter den Menschen wirksam werden. Dies sind nicht nur die Zöllner und Sünder, sondern auch die Armen, die Frauen, die Kranken, die Samaritaner und die Kinder.
Wenn Jesus Gottes radikalen Heilsentschluss für den Menschen nicht nur verkündigte, sondern auch praktizierte, stellt sich die Frage, ob er auch Menschen die Vergebung Gottes direkt zusprach. Sowohl die Begegnung mit der Sünderin (Lk 7,36–50) als auch die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12) weisen auf eine direkte, personale Sündenvergebung Jesu hin. Beide Texte gehen zwar in ihrer jetzigen literarischen Gestalt nicht auf Jesus zurück, aber sie enthalten alte Traditionen (Lk 7,37.38.47; Mk 2,5b.10?), die einen Zuspruch der Sündenvergebung Gottes bzw. eine unmittelbare Sündenvergebung durch Jesus möglich erscheinen lassen. Eine derartige Praxis Jesu würde seiner Botschaft von der voraussetzungslosen Parteinahme Gottes für den Menschen entsprechen. Jesus nimmt für sich in Anspruch, was eigentlich Gott vorbehalten schien128.
Offensichtlich gibt es bei Jesus eine Parteilichkeit im Namen Gottes zugunsten der Armen129, eine gleichermaßen religiöse wie sozial-politische Setzung. In der ersten Seligpreisung wird denen, die nichts haben und nur deswegen neben den Hungrigen und den Weinenden stehen können, bedingungslos das Gottesreich zugesprochen (Q 6,20). Reichtum kann von Gott trennen; dies verdeutlichen das Drohwort Mk 10,25 und die Geschichte vom Reichen und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31), bei der bezeichnenderweise nur der Arme einen Namen hat. Es wird nicht gesagt, dass der Reiche unbarmherzig war oder zu wenig Almosen gespendet hat, sondern Reichtum auf der Welt bringt himmlische Qual als Ausgleich mit sich. Zum Bruch mit der Welt, den Nachfolge als Dienst an der Verkündigung des Gottesreichs fordert, gehört auch der Besitzverzicht, wie die Erzählung vom reichen Jüngling zeigt (Mk 10,17–23). Den Frauen wusste sich Jesus besonders verbunden, denn sie wurden vor allem durch das Ritualgesetz benachteiligt: Frauen waren durch Menstruation und Geburt häufig unrein, nicht kultfähig, von der Rezitation des Bekenntnisses befreit, nicht zum Torastudium zugelassen und nicht rechtsfähig130. Auch gegenüber den Samaritanern, die nicht den Status von Volljuden besaßen und religiös diskriminiert wurden, hatte Jesus keinerlei Berührungsängste; ebenso wenig mit Kindern, er stellt beide sogar als Vorbild hin (vgl. Mk 10,14f; Lk 10,25–37). Jesus kannte im Umgang mit Menschen keinerlei ritualgesetzliche Hemmungen. Mindestens tendenziell zielt die schrankenlose Liebe Gottes auch auf die religiös und sozial Deklassierten. Religionsgesetzliche Ordnungen, die im Namen Gottes diese Ausgrenzungen begründeten, wurden von Jesus übergangen. Seine Mahlgemeinschaften mit Zöllnern, Sündern und Frauen demonstrieren eindrücklich die neue Wirklichkeit des Reiches Gottes.
3.4.5Reich Gottes und Mahlgemeinschaften
Weil Mahlzeiten im antiken Judentum immer auch einen sakralen Charakter hatten und Gott im Lobpreis gedanklich als eigentlicher Gastgeber anwesend war, dienten die Mahlgemeinschaften sowohl der Wahrung jüdischer Identität