Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Udo Schnelle
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846347270
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dei (vgl. Q 14,26; Mk 10,29) und der Heimatlosigkeit des Menschensohnes in Verbindung steht (Q 9,57f). Als ethische Radikalismen können auch das Ehescheidungsverbot (s.o. 3.5.1), das Fastenverbot in Mk 2,18–20 und die Tempelkritik in Mk 11,15–19 (s.u. 3.10.2) angesehen werden.

      Die grenzüberschreitenden ethischen Radikalismen Jesu sind drastische Aufforderungen, die von Gott nicht gewollte Entzweiung zwischen Menschen zu überwinden und dem Willen des Schöpfers wieder Geltung zu verschaffen. Ihrem Wesen nach unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar171, fordern die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß172. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und endgültig proklamiert. Jesus formuliert ihn aus eigener Vollmacht, leitet ihn nicht aus dem Alten Testament ab, das damit im Lichte des Reiches Gottes überboten, zugleich aber auch vertieft und ausgeweitet wird. Erst im Willen Gottes erreicht somit der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung. An das endgültige Wort Gottes darf er sich halten, von diesem Wort her gilt es zu leben und zu handeln. Indem der Mensch sich ganz auf Gott ausrichtet und damit von sich selbst löst, kann er sich von der Liebe bestimmen lassen, um das Wohl des anderen zu suchen. Auch im Versagen gegenüber dem Willen Gottes und der drohenden Gerichtsverfallenheit ist der Mensch ausschließlich auf Gott angewiesen, denn allein in der Umkehr kann er seinem gerechten Urteil entgehen. Der Radikalität der Forderung Jesu entspricht somit die Totalität des Angewiesenseins des Menschen auf Gott173. Die Frage der Erfüllbarkeit der ethischen Radikalismen stellt sich bei Jesus nicht, denn sie würde zu einer von ihm nicht gewollten Negierung der Entscheidungsfreiheit und damit zu einer Gesetzlichkeit und Funktionalisierung führen. Die Radikalismen sind bewusste Verfremdungen und haben als exemplarische Worte Appellcharakter, sich angesichts des nahenden Gottesreiches ganz auf den Willen Gottes einzulassen und gerade dadurch Menschsein zu ermöglichen.

      Als Geschöpf ist der Mensch dem Willen Gottes verpflichtet. Damit muss er sich nicht einem willkürlichen Despoten unterordnen, sondern Gottes Wille ist von seiner Liebe umgriffen, die in seinem Schöpferhandeln Gestalt gewinnt. Das Liebesgebot in seiner dreifachen Form als Gebot der Nächstenliebe (vgl. Mt 5,43), der Feindesliebe (Mt 5,44) und als Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) bildet die Mitte und das Zentrum der Ethik Jesu.

      Das Doppelgebot der Liebe

      In Mk 12,28–34 wird dem Schriftgelehrten auf seine Frage „Welches ist das erste von allen Geboten?“ von Jesus geantwortet: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von deinem ganzen Herzen und von deiner ganzen Seele und von deiner ganzen Vernunft und von deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als dieses“ (V. 30.31). In seiner vorliegenden literarischen Gestalt geht das Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurück, denn die Häufung der Vernunftbegriffe, die ausgeprägte anthropologische Differenzierung, die ausdrückliche Überordnung des Liebesgebotes über die Opfer in V. 33, die starke Betonung des Monotheismus und die vom hebräischen Text und der LXX abweichende Hinzufügung von διάνοια lassen darauf schließen, dass literarisch eine Tradition des hellenistischen Judenchristentums vorliegt. Deshalb wurde vielfach das Doppelgebot der Liebe nicht als Proprium der Verkündigung Jesu angesehen174. Andererseits gibt es aber auch Hinweise, dass das Doppelgebot der Liebe sachlich doch auf Jesus von Nazareth zurückzuführen ist175: 1) Die Zusammenstellung von Dtn 6,5 und Lev 19,18 ist zwar in der jüdischen Tradition vorbereitet176, findet sich dort aber ebenso wenig wie die Nummerierung der beiden Gebote177. 2) Der Text enthält keinerlei christologische Aussagen, die starke Betonung des Monotheismus schließt sie sogar aus178. 3) Sowohl die Kontext- als auch die Wirkungsplausibilität sprechen für eine sachliche Zurückführung des Doppelgebotes auf Jesus. Es ist einerseits in die Traditionen des Judentums eingebunden und kann deshalb dem Juden Jesus von Nazareth zugeordnet werden, andererseits lässt es ein besonderes Profil erkennen; das Doppelgebot der Liebe könnte sehr gut eine Besonderheit der Verkündigung Jesu sein, die seinen Anspruch dokumentiert179. Zumal die Entschränkung des ‚Nächsten‘ über die nationale Perspektive von Lev 19,18 hinaus das Gebot der Feindesliebe illustriert. Die starke Wirkungsgeschichte (vgl. Mk 12,28–34par; Gal 5,14; Röm 13,8–10; Joh 13,34f) spricht ebenfalls dafür, dass beim Doppelgebot ein Impuls Jesu am Anfang stand. 4) Der Sachgehalt des Doppelgebotes findet sich nicht nur in der Wort-, sondern auch in der Erzählüberlieferung. Die Liebe gegenüber dem Fremden illustriert die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30–37)180, mit der die Frage beantwortet wird, wer mein Nächster ist. Es geht um die Reichweite und Grenze der Liebesverpflichtung. Jesus erzählt die Geschichte aus der Perspektive des unter die Räuber Gefallenen. Am Beispiel des religiös und politisch diskriminierten Samaritaners illustriert er die Grenzenlosigkeit der Verpflichtung zur Liebe, die ihr Ende nicht am Zumutbaren und Üblichen findet. Bewusst werden die beiden lieblosen Juden und der barmherzige Samaritaner kontrastiert; ein Verfremdungseffekt, der verdeutlichen soll, dass sich Nächstenliebe nicht an Konventionen und Vorurteile hält, sondern es wagt, sich darüber hinwegzusetzen und in souveräner Freiheit jene Hindernisse zu übersteigen, die sonst die Wege zueinander versperren. Die Liebe gegenüber den Sündern veranschaulicht die Erzählung von der Sünderin in Lk 7,36–50181. Die von Jesus gewährte Gemeinschaft mit Gott orientiert sich nicht an religiösen Schranken, sondern an den Bedürfnissen der Menschen, die aufrichtig Vergebung suchen.

      Ethik der Liebe

      Inhaltlich ist die Liebesforderung die Mitte der Ethik Jesu. Das Liebesgebot ist radikal, es lässt keine Einschränkung mehr zu und entspricht darin der uneingeschränkten Schöpfergüte. Jesu Liebesforderung ist konkret, denn in den Texten dominieren konkrete Beispiele: Segnen, Gutes tun, sich versöhnen, vergeben, den Bruder nicht „Dummkopf“ nennen, den Armen das Geschuldete zurückerstatten und sein Vermögen verschenken; nicht richten, nicht nur den Splitter im Auge des Bruders sehen. Jesus geht es keineswegs um eine neue Gesinnung, denn sowohl die Konkretheit der Forderungen als auch ihr radikaler, zugespitzter Charakter sollten jeden Zweifel darüber zerstören, dass sie tatsächlich ernst gemeint waren. Gerade in ihrer Radikalität ist Jesu Liebesforderung exemplarisch. Seine Worte sind exemplarische Sätze, seine Erzählungen sind exemplarische Geschichten und seine Taten sind exemplarische Handlungen, die ihre Kraft in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise freisetzen. Sie können nicht eins zu eins umgesetzt werden, denn es gehört zum Wesen der Liebe, dass sie spontan ist und als ein den ganzen Menschen umfassendes Geschehen sich immer wieder in jeder Situation neu realisiert. In diesem Sinn sind Jesu Forderungen nicht Vorschriften, sondern viel mehr als das: Sie sind exemplarische Hinweise, sie greifen Musterbeispiele heraus, die man um ihrer Anschaulichkeit willen leicht behalten kann und die zeigen, wie das von Jesus gemeinte Verhalten aussehen könnte. Der Geltungsbereich von Jesu Forderungen geht weit über das hinaus, was in den Texten angesprochen wird. Zugleich schließt aber der Gehorsam gegenüber seinen Forderungen immer das Moment der eigenen Freiheit mit ein, um herauszufinden, was Liebe in neuer Situation konkret bedeutet. Die von Jesus postulierten Entgrenzungen führen keineswegs in Grenzenlosigkeit, sondern orientieren sich aktiv an der Liebe, deren Gestalt nie beliebig sein kann.

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