Auf diesem Hintergrund stellten die von Jesus praktizierten Mahlgemeinschaften einen Angriff auf die atl. Fundamentalunterscheidung ‚rein – unrein‘ dar (vgl. Lev 10,10: „Ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein, und dem, was rein ist“)133. Jesu Teilnahme an Gastmählern hat in der Überlieferung vielfältige Spuren hinterlassen (vgl. Q 7,33f; Q 10,7; Q 13,29.28; Lk 14,15–24/Mt 22,1–10; Mk 1,31; 2,15ff; 2,18ff; 3,20; 7,lff; 14,3ff; Lk 8,1–3; 10,8.38ff; 13,26; 14,1.7–14; 15,1f.11–32; 19,1–10). Sie zeugen davon, dass es zum Besonderen Jesu gehört haben muss, Gastmähler zu feiern, sie mit spezifischem Sinn zu versehen und dabei kulturelle Regeln zu durchbrechen. Die Parabel vom großen Gastmahl (Lk 14,15–24/Mt 22,1–10)134 zeigt, wie Jesus zeitgenössische Vorstellungen aufnahm und verfremdete. Im antiken Judentum war die Vorstellung weit verbreitet, dass am Ende der Tage Gott für die Gerechten und Geretteten ein Heilsmahl in unermesslicher Fülle zubereiten wird (vgl. Jes 25,6; PsSal 5,8ff). Von Gottes endzeitlichem Freudenmahl spricht auch Jesus, doch er weiß Überraschendes zu berichten: Das Fest findet statt, aber die Gäste werden andere sein als man dachte. Die zuerst eingeladenen Gäste haben ihre Chance verpasst, denn sie erkannten den gegenwärtigen Kairos des Gottesreiches nicht135. Stattdessen nehmen Menschen „von der Straße“ (Lk 14,23) an dem Fest teil, d.h. Arme und andere Randsiedler der Gesellschaft. Damit stellt Jesus antike Ehrvorstellungen auf den Kopf, denn Gott gewährt gerade denen seine Ehre, die eigentlich davon ausgeschlossen sind136. Ähnlich provokativ ist der Ausblick auf das eschatologische Freudenmahl in Q 13,29.28; nicht die Erwählten, sondern die Heiden werden es mit Abraham, Isaak und Jakob halten. Eine Umkehrung der Verhältnisse ist eingetreten, wie sie die Seligpreisung der Armen in Q 6,20 und Q 13,30 verdeutlichen: „Es werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“.
Die Mahlpraxis Jesu konnte deshalb nicht ohne Reaktion bleiben. So erhoben die Schriftgelehrten unter den Pharisäern nach Mk 2,16 die aus ihrer Sicht diskreditierende Frage, ob Jesus mit Zöllnern137 und Sündern esse (vgl. Q 7,34; Lk 15,1). Jesus antwortet mit seiner Sendung zu den Sündern (Mk 2,17c); vor allem den Sündern muss Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, damit sie zu Gott zurückkehren. Jesus hat also betont und absichtsvoll diejenigen am Mahl teilnehmen lassen, die das offizielle Judentum seiner Tage lieber ausgrenzte. Gott der Schöpfer übernimmt selbst in den Gastmählern die endzeitliche Fürsorge für seine Geschöpfe und ist den Sündern gegenüber der Barmherzige. Der kreatürliche Aspekt ist bei den Gastmählern nicht zu übersehen, Gott spricht die Menschen in der bereits wirkenden Gottesherrschaft in ihrer Geschöpflichkeit an und gewährt ihnen auf die Bitte „Unser Brot für den Tag gib uns heute“ (Q 11,3) das zum Leben Notwendige (vgl. Q 12,22b–31).
Die Gastmähler veranschaulichen, wie sich die Dynamik des Gottesreiches von selbst durchsetzt und Menschen in sich aufnimmt. Die Mahlgemeinschaften sind wie die Gleichnisreden und die Wundertaten ganz und ungeteilt Ereignisse der ankommenden Gottesherrschaft. Im antiken Judentum gibt es für diese sich wiederholenden Gastmähler mit kultisch Unreinen als Ausdruck und Vollzug der ankommenden Gottesherrschaft keine Parallelen. Die offene Mahlpraxis Jesu mit ihrem Heilscharakter (Mk 2,19a) gehört in das Zentrum des Wirkens Jesu138, wie nicht zuletzt die Wirkungsgeschichte des Mahlmotives zeigt (vgl. 1Kor 11,17–34; Mk 6,30–44; 8,1–10; 14,22–25; Joh 2,1–11; 21,1–14; Apg 2,42–47).
Das Reich Gottes als Gottes neue Wirklichkeit
Gottes Kommen und Handeln in seinem Reich ist die Basis, die Mitte und der Horizont des Wirkens Jesu. Mit der Rede vom Reich/der Herrschaft Gottes nimmt Jesus nicht nur eine Zeitdiagnose, sondern eine umfassende Sinnbildung vor, deren Ausgangspunkt die Erfahrung und die Einsicht war, dass Gott in neuer Weise zum Heil der Menschen unterwegs ist und das Böse zurückgedrängt wird139. Auffällig ist zunächst, was bei Jesu Rede über Gottes Herrschaft/Reich fehlt: Nationale Bedürfnisse werden nicht angesprochen, und die rituelle Trennung von Heiden und Juden spielt keine Rolle mehr. Nicht das Opfer im Tempel, sondern Mahlgemeinschaften in galiläischen Dörfern sind Zeichen der anbrechenden neuen Wirklichkeit Gottes. Jesus setzt innerhalb Israels keine Grenzen: Er stellt die Randsiedler Israels, die Armen, die benachteiligten Frauen, Kinder, Zöllner, Huren in die Mitte, er integriert Kranke, Unreine, Aussätzige, Besessene und schließt offensichtlich auch Samaritaner ins Gottesvolk ein. Grundlegende religiöse, politische, soziale und kulturelle Identitätsmerkmale seiner Gesellschaft werden von Jesus einfach außer Acht gelassen. Der Anfang des Gottesreiches wird in der Liebe Gottes zu den Disqualifizierten sichtbar und bedeutet: überwältigende Vergebung von Schuld, Vaterliebe, Einladung an die Armen, Erhörung der Gebete, Lohn aus Güte und Freude. Davon erzählt Jesus in seinen Gleichnissen und Parabeln. Ihre eigentümliche Leistung besteht darin, dass sie den Hörer gleichsam in ihre erzählte Welt hineinholen, so dass er sich mit seiner Welt unversehens in der Geschichte selbst vorfindet und dabei sich und seine Zeit neu verstehen lernt. So schaffen sie Nähe zum Ungewöhnlichen der Botschaft Jesu und damit zu der unerwartet nahenden und bereits gegenwärtigen Gottesherrschaft mitten in der Alltagswelt.
Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine Idee, sondern eine sehr konkrete, weltumstürzende Wirklichkeit, als deren Anfang er sich selbst verstand140. Durchgängig wird vorausgesetzt, dass das Kommen des Reiches Gottes eine Realität ist, wobei Jesu Aussagen teilweise von ungewöhlicher Konkretheit sind. Den Boten wird eingeschärft, niemanden auf dem Weg zu grüßen (Q 10,4). Wer um die Bedeutung des Grußes im Orient weiß, kann ermessen, wie befremdlich dieser Befehl ist. Die Nachfolger dürfen von ihren Familien nicht mehr Abschied nehmen, ja, den eigenen Vater nicht mehr begraben (vgl. Q 9,59f). Solche Sätze wären nicht denkbar, wenn das Reich Gottes nicht als etwas ganz Konkretes, als ein wirklich von Gott gebrachtes Ende gedacht wäre, das bereits jetzt menschliche Bindungen aufhebt. In Galiläa war die Großfamilie der Ort sozialer Identität141, d.h. Jesus verlässt auch hier mit seinen Nachfolgern die gewohnte Denk- und Sozialstruktur.
Die Herrschaft Gottes entwickelt sogar eine eigene Dynamik; Jesus spricht von ihr als selbst handelndes Subjekt: „sie ist nahe herbeigekommen“ (Mk 1,15), „sie ist da“ (Lk 11,20), „sie kommt“ (Lk 11,2), „sie ist mitten unter euch“ (Lk 17,21). Offenbar ist für Jesus die Gottesherrschaft ein eigenes, den Menschen zwar erfassendes, aber nicht von ihm bestimmbares oder auszulösendes Geschehen und hat ihre eigene Kraft (vgl. Mk 4,26–29)142.
Die Interpretation des Reich-Gottes-Begriffes ist in der Forschung durch einen Antagonismus zwischen einem ethisch individualistisch-präsentischen und einem apokalyptisch kosmisch-futurischen Verständnis bestimmt gewesen. Klassische Vertreter einer ethischen Interpretation sind Albrecht Ritschl (1822–1889) und Adolf von Harnack (1851–1930). In seinem 1875 veröffentlichten „Unterricht in der christlichen Religion“ stellt Ritschl in § 5 fest: „Das Reich Gottes ist das von Gott gewährleistete höchste Gut der durch seine Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde; allein es ist als das höchste Gut nur gemeint, indem es zugleich als das sittliche Ideal gilt, zu dessen Verwirklichung die Glieder der Gemeinde durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise sich unter einander verbinden.“143 A. v. Harnack stützte sich für sein Gottesreichverständnis vor allem auf die Gleichnisse Jesu; an ihnen wird sichtbar, was das Gottesreich ist: „Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß – aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft. Alles Dramatische im äußeren, weltgeschichtlichen Sinn ist hier verschwunden, versunken ist auch die ganze äußerliche Zukunftshoffnung.“144 Demgegenüber steht die Interpretation von Johannes Weiss (1863–1914), der 1892 sein Buch „Die Predigt Jesu vom Reich Gottes“ veröffentlichte. Reich Gottes bedeutet demnach bei Jesus weder sittliches Ideal noch innere religiöse Gewissheit, sondern Gott führt das Ende der Welt und