3.4.3Das Reich Gottes in Gleichnissen
J.JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 101984; E.LINNEMANN, Gleichnisse Jesu, Göttingen 71978; E.JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 61986; R.W. FUNK, Parables and Presence, Philadelphia 1982; W.HARNISCH, Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegung, Darmstadt 1982; DERS., Die Gleichniserzählungen Jesu, Göttingen 42001; H.WEDER, Die Gleichnisse Jesu als Metaphern, FRLANT 120, Göttingen 41990; E.RAU, Reden in Vollmacht, FRLANT 149, Göttingen 1990; CHR.KÄHLER, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie, WUNT 78, Tübingen 1995; K.ERLEMANN, Gleichnisauslegung, Tübingen 1999; R. ZIMMERMANN (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007.
Die Bedeutung der Gleichnisse für das Verständnis der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ergibt sich zunächst aus dem Überlieferungsbefund. Alle Quellen (Q, Mk, Mt/Lk-Sondergut, ThEv) bezeugen den elementaren Zusammenhang, dass bei Jesus das Reich Gottes in der Sprachform des Gleichnisses eine besondere Auslegung erfährt111.
Gleichnisse als Erschließungstexte
Gleichnisse sind bei Jesus eine bevorzugte Sprachform, weil sie in besonderer Weise das Wesen des Reiches Gottes zu erschließen vermögen. Es gelingt Jesus, die Gleichnisse von ihrem inneren Erzählgeflecht her so auszurichten, dass sie im Horizont der nahenden Gottesherrschaft selbst die Nähe zu ihr herstellen. Er richtet mit ihnen in der Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt die Wirklichkeit der Gottesherrschaft auf. Dies verdeutlichen die Kontrastgleichnisse, die einzigen Gleichnisse112, bei denen die Sachhälfte „Gottesreich“ in den verschiedenen Evangelien übereinstimmend überliefert wird (vgl. Mk 4,3–8.26–29.30–32; Q 13, 18f.20f)113. Beim Gleichnis vom Sämann (Mk 4,3–8) steht die Wirkung der Botschaft Jesu im Mittelpunkt; sie wird nicht von allen gehört und geteilt, wo sie aber aufgenommen wird, verfehlt sie ihre Wirkung nicht114. Das Gleichnis von der selbst wachsenden Saat (Mk 4,26–29) verweist auf das sichere und vom Handeln des Menschen unabhängige Kommen des Reiches Gottes. So wie die Saat von selbst aufgeht, Frucht bringt und die Ernte kommt, so dass der Mensch nichts dazu tun kann und muss, ihm unerwartete Zeit geschenkt wird, so kommt auch das Reich Gottes von selbst (Mk 4,28: αὐτομάτη)115. Diese in der Gegenwart von Gott geschenkte Zeit gilt es zu nutzen! Im Gleichnis vom Senfkorn beschreibt Jesus Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes. Dem unscheinbaren Anfang, seiner noch verhüllten Wirklichkeit in Gleichnissen und Wundern wird eine großartige Zukunft der Basileia in der Herrlichkeit Gottes entsprechen. Der Sauerteig veranschaulicht das unaufhaltsame Voranschreiten des Reiches Gottes aus kleinsten Anfängen heraus.
In den Kontrastgleichnissen ist der Schluss der herausgehobene Punkt, an dem erreicht ist, was eigentlich beabsichtigt war: der große Baum, in dem die Vögel nisten; die Durchsäuerung des Teigs, die Scheidung von Unkraut und Weizen und die überreiche Ernte. Vom Schluss wird der Anfang in bewusstem Kontrast abgehoben, der aber nun seinerseits in einem besonderen Licht erscheint: Das eigentlich Überraschende für die Hörer ist der Anfang und nicht das Ende. Eine so ungeheure Sache wie das Gottesreich wird mit einer Winzigkeit wie dem Senfkornsamen116, dem Durcheinander im Weizenfeld und ein wenig Sauerteig verglichen. Hier liegt eine bewusste Verfremdung vor, denn einen solchen Vergleich für das Gottesreich hätte niemand erwartet. Speziell das Bild von Sauerteig ist besonders befremdlich, denn es ist in der Tradition nicht vorgegeben117. Diese Verfremdung ist Verweigerung und Erschließung zugleich. Jesus spricht nicht „von“ oder „über“ etwas, sondern wählt ein Bild. Das Bild gibt keine Auskunft darüber, wie das Gottesreich jetzt ist und wie lange es bis zu seinem endgültigen Erscheinen dauert. Das Bild verweist vielmehr auf eine Überraschung, auf etwas völlig Unerwartetes, und gerade dadurch erschließt es wiederum das Neue des Gottesreiches. Die Kontrastgleichnisse verweigern ein begriffliches Verstehen von Jesu Wirken. Sie lassen es nicht zu, Jesus in einen apokalyptischen Zeitplan einzuzeichnen, und sie machen eine direkte, ungebrochene, sichtbare, berechenbare und einleuchtende Kontinuität zwischen seinem Wirken und dem Eschaton unmöglich. Dennoch erschließen die Gleichnisse Jesu Sendung, denn sie lassen teilhaben an der grenzenlosen Hoffnung und an der unendlichen Gewissheit, die Jesus auszeichnete. Sie lassen die hoffnungslose Gegenwart unter der Perspektive einer total anderen Zukunft verstehen und vermitteln so Hoffnung auf das Reich Gottes, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen.
Der unendliche Wert der Gottesherrschaft kommt in den Parabeln vom Schatz im Acker (Mt 13,44) und der Perle (Mt 13,45f) zur Sprache, wo das Verhalten des Finders im Mittelpunkt steht. Er hätte jeweils sehr verschiedene Möglichkeiten gehabt, wählt aber die sachgemäße aus: Er setzt zielstrebig alles dafür ein, um das Himmelreich zu erwerben118. „Wer die Gottesherrschaft findet, findet sich selbst als einen, der mit dem ganzen Dasein auf jenen Fund reagiert.“119 Mit seinen Gleichnissen und Parabeln ermöglicht Jesus das Finden der Gottesherrschaft. Der Einsatz für sie wird aber nicht gefordert, sondern ergibt sich aus ihrer Anziehungskraft, ihrem Wert und ihrer Verheißung. Wer sich dennoch der neuen Wirklichkeit des Reiches Gottes verweigert, wird von Jesus im Gleichnis vom Fischnetz gewarnt (Mt 13,47–50): Im Gericht findet eine Scheidung zwischen Bösen und Gerechten statt, d.h. die Hörer des Gleichnisses haben es jetzt in der Hand, zu welcher Gruppe sie gehören werden.
In den Gleichnissen bringt Jesus Gott nicht nur zur Sprache, sondern er bringt Gott den Menschen so nahe, dass sie sich von seiner Güte ergreifen und verwandeln lassen. Die Wahrheit des Geforderten und Erzählten verbürgt dabei der Erzähler selbst. Von dem Neuen und Überraschenden des Reiches Gottes reden auch viele andere Gleichnisse und Parabeln Jesu, in denen zumeist der Begriff ‚Reich Gottes‘ explizit fehlt, die aber dennoch Unerhörtes über das Reich Gottes aussagen.
3.4.4Das Reich Gottes und die Verlorenen
Anders als beim Täufer kommt bei Jesus von Nazareth das Heils handeln Gottes in umfassender und neuer Weise zur Sprache. Programmatisch kommt Jesu Selbstverständnis in Mk 2,17c zum Ausdruck: „Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“120 Das Begriffspaar δίϰαιοι – ἁμαρτωλοί ist auch sonst der Verkündigung Jesu nicht fremd (vgl. Lk 15,7; 18,9–13) und dürfte das Ziel seiner Sendung präzis beschreiben: Seine Botschaft der nahenden Gottesherrschaft galt ganz Israel und somit auch den keineswegs nur ironisch so genannten Gerechten. Vor allem den Sündern musste Gottes Barmherzigkeit und Liebe nahe gebracht werden, denn der Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott treten; Gott nimmt den zur Umkehr bereiten Sünder an. Vom Suchen Gottes nach den Verlorenen und ihrer Rückkehr zu Gott erzählt Jesus in eindrucksvollen Parabeln.
In der Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) interpretiert Jesus gleichermaßen den Menschen und Gott121. Im Zentrum steht der Vater, der in gerechter Liebe für seine Söhne sorgt. Beiden gewährt er durch das Erbe das zum Leben Notwendige. Das verschwenderische Leben des jüngeren Sohnes beantwortet er nicht mit dem Entzug seiner Liebe, sondern mit der Tat der voraussetzungslosen Annahme, bevor der Sohn das Eingeständnis seiner Schuld machen kann. Auch dem älteren Sohn gegenüber bekundet er trotz der Vorwürfe seine andauernde Liebe und Gemeinschaft (V. 31). In dem antithetisch entfalteten Verhalten der Brüder offenbaren sich zwei mögliche menschliche Reaktionen auf die Erfahrung und Zusage des Angenommenseins. Erst durch die Krise hindurch gelangt der jüngere Sohn zu der Einsicht, dass ein Leben fern vom Vater nicht möglich ist. Mit der Erkenntnis des eigenen Fehlverhaltens (V. 18.21: ἥμαρτον = „ich habe gesündigt“) verbindet sich die Erwartung der gerechten Bestrafung. Neu und überraschend ist dann für den jüngeren Sohn die Größe und Weite des liebenden Angenommenseins durch den Vater. Der ältere Bruder hingegen versteht sich nicht als grundlos Angenommener, sondern sieht sein Verhältnis zum Vater in einer Arbeit-Lohn-Relation. Nur wer arbeitet und Gesetze erfüllt, darf feiern. Dadurch verfängt sich der ältere Sohn in einem Geflecht von Leistung und Gegenleistung, das den Blick auf das Angewiesensein des Menschen versperrt. Radikale Vergebung als Ausdruck andauernder Liebe kann es in seinen Augen für ihn nicht