Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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die Ausnahme. Dazu gehörte auch Venedig, für das in dieser Zeit rund 70.000 Einwohner angenommen werden. Ebenso hat das dichte Städtegeflecht der italienischen Halbinsel oder der spätmittelalterlichen Hanse-Kultur an Nord- und Ostsee keine Entsprechung in Mittel- und Südosteuropa. „Große“ Städte wie Wien oder Prag hatten bis 1500 zwischen 10.000 und 25.000 Einwohner, durchschnittliche Mittel- und Kleinstädte zwischen 2000 und 5000, oft auch weniger. Dalmatien, der westliche Küstensaum Südosteuropas mit einer teilweise noch aus römischer Zeit stammenden Stadtkultur, hatte keine Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern. Selbst die im 15. Jahrhundert blühende Stadtrepublik Dubrovnik/Ragusa, die den Balkanhandel beherrschte und Handelsschiffe bis in das westliche Mittelmeer sandte, gehörte im europäischen Vergleich bestenfalls zu den mittelgroßen Städten. Konstantinopel, die bevölkerungsreichste Stadt Südosteuropas, hatte um 1450 mit zwischen 30.000 und 40.000 Einwohnern einen demographischen Tiefstand erreicht und wurde nach der Eroberung durch Sultan Mehmed II. (1453) u. a. durch gezielte Deportationen aus den Provinzen des Osmanischen Reichs besiedelt.

      Die exemplarische Vorstellung einzelner Überlieferungsträger wird daher, wo immer das möglich ist, vergleichend diskutiert, um die Relevanz und Repräsentativität oder eben die Besonderheit der vorgestellten Beispiele deutlich zu machen. Sie werden zudem mit den entsprechenden Verweisen auf einschlägige Handbücher und Forschungsliteratur jeweils in den zeitlichen und räumlichen Kontext eingeordnet. Gleichzeitig werden „weiße Flecken“ auf der Landkarte der Quellenerschließung ebenso sichtbar gemacht wie das Fehlen eines Vergleichsrahmens, wo dies der Fall ist. Schließlich sollen einige Fallbeispiele bewusst konkrete methodische Vorgangsweisen sichtbar machen, mit denen unterschiedliche Fachwissenschaften an ihre Gegenstände herangehen.

      Eine kulturhistorische Perspektive

      Prägend für das mittelalterliche Europa in seinem allmählichen und „ungleichzeitigen“ Werden waren eine Reihe komplex verflochtener Faktoren. Zwei davon, die – wenn auch vielfach gebrochen – nachhaltig wirksam werden sollten, sind das Christentum und die Auffassung von der sozialen Welt als durch das Prinzip der Ungleichheit [<<30] strukturiert. Man stellte sich die Menschen in Stände hineingeboren vor, die Lebensformen und -chancen wie Handlungsmöglichkeiten maßgeblich bestimmten. Selbstverständlich muss man solche Aussagen umgehend wieder einschränken. Denn das Christentum setzte sich nur allmählich und regional sehr unterschiedlich „tief“ durch, wurde darüber hinaus in einem langen Prozess in einen katholischen „Westen“ und einen orthodoxen „Osten“ geteilt. In ganz Europa lebten im gesamten behandelten Zeitraum Angehörige nicht christlicher Religionen, besonders Juden und Muslime. So gehörten weite Teile unseres Raumes seit der osmanischen Eroberung zu einem Reich, in dem eine überwiegend muslimische Elite nach islamischen Staatsmodellen eine mehrheitlich christliche Bevölkerung beherrschte.

      Ebenso sah die ständische Einteilung der Menschen in Geistliche, Krieger und Bauern, welche die Kirchenväter der lateinischen Spätantike prägten, schon in den frühmittelalterlichen Jahrhunderten viel komplexer aus. Geistlicher und adeliger Stand überschnitten einander und differenzierten sich, die bäuerliche Bevölkerung war je nach naturräumlichen und ökonomischen Gegebenheiten regional unterschiedlich stark abhängig. In Krisenzeiten stieg oft die soziale Mobilität, und die Ausbildung von Herrschaftszentren, Städten und Dörfern in Hoch- und Spätmittelalter schuf neue Formen der Zugehörigkeit und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens ebenso wie eine verstärkte Binnendifferenzierung in diesen sozialen Räumen, deren Grenzen nach außen ihrerseits unterschiedlich durchlässig sein konnten.

      Überlieferungschancen hängen maßgeblich von sozialen Aspekten ab. Wer Macht und Einfluss hat, wer sich ein Archiv bauen und es erhalten kann, wer der Erinnerung Stimme und Schrift verleihen kann, dessen Zeugnisse werden eher in die Geschichte eingehen als die von Angehörigen sozialer Unterschichten, manchmal auch von Randgruppen oder rechtlich nicht Gleichgestellten wie etwa Frauen. Die zumindest teilweise „Unsichtbarkeit“ dieser Gruppen in den Quellen liegt aber nicht nur in der Überlieferung selbst begründet, die meist die Perspektive der Sieger und der institutionell langfristig Erfolgreichen privilegiert. Sie hängt vielmehr auch davon ab, ob Historiker und Historikerinnen nach ihnen suchen. Es ist uns daher ein Anliegen, in der exemplarischen Diskussion vorhandener Überlieferung gerade auch solchen Personen und Gruppen Augenmerk zu schenken, die auf [<<31] den ersten Blick geringere Chancen haben, von Überlieferung und historischen Darstellungen – zumal im Überblick – berücksichtigt zu werden.

      Selbstverständlich gilt auch hier, dass man sich darum bemühen muss, die Proportionalität der überlieferten Gegebenheiten methodisch nachvollziehbar zu machen. Der reichen Überlieferung dalmatinischer Küstenstädte und dörflicher Gemeinden im 14. und 15. Jahrhundert, die uns Einblicke in den Alltag der Menschen und in Facetten sozialer Beziehungen, in Ehestreitigkeiten und Wirtschaftsweisen, Gasthausraufereien und Handlungsstrategien gegenüber der venezianischen Obrigkeit erlaubt, stehen weite Gebiete im bosnischen oder serbischen Hinterland gegenüber, über die zu all diesen Themen nur vereinzelte oder gar keine Quellen erhalten sind. Warum das jeweils so ist und wie Historiker und Historikerinnen in Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Nachbardisziplinen (Archäologie, Kunstgeschichte, Theologie und Kirchengeschichte, Philologien, Linguistik, etc.) versuchen, diese Probleme zu lösen, das sind Fragen konkreter methodischer Verfahren, die nicht zuletzt durch die – zu Unrecht so bezeichneten – historischen „Hilfs“-Wissenschaften laufend weiter entwickelt werden. Der Umgang mit Schriften, Inschriften und Handschriften (Paläographie, Epigraphik, Kodikologie) gehört dazu ebenso wie die Interpretation von Bildern, Wappen und Münzen (Ikonographie, Heraldik, Numismatik). Sie alle werden in den einzelnen Kapiteln im Sinn von Kulturtechniken ebenso wie als methodische und letztlich epistemologische Werkzeuge vorgestellt. [<<32]

      1

      1.1 „Moderne“ Wissenschaften und Nationen

      Vom ausgehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, als sich in ganz Europa Rahmenbedingungen und Formen dessen ausprägten, was heute unter „moderner Wissenschaft“ verstanden wird, gehörten einige Gebiete unseres Betrachtungsraumes politisch zunächst noch zum Herrschaftsgebiet des Osmanischen Reichs, der überwiegende Teil aber zu dem der Habsburgermonarchie. Ihr Zentrum Wien hatte daher in vielfacher Hinsicht Einfluss auf die wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Entwicklung der sich im 19. Jahrhundert formierenden „Nationen“, trotz und teilweise gerade wegen ihrer zunehmenden politischen Abgrenzung von diesem Zentrum.

      Generell ist Europa im 19. Jahrhundert von zwei für unseren Gegenstand maßgeblichen und komplex verflochtenen Aspekten der politischen und wissenschaftlichen Entwicklung charakterisiert: Eine der vielen Antworten auf die napoleonischen Kriege und die konservative Restaurationspolitik der europäischen Großmächte bestand in zunehmenden nationalstaatlichen Bestrebungen. Diese entwickelten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa in Konkurrenz und Opposition zur imperialen Politik der heterogen zusammengesetzten Habsburgischen, Russischen und Osmanischen Reiche besondere Brisanz. Formen der politischen und sozialen Nationsentwicklung und die ihnen zugrunde liegenden Prozesse nationaler Identifikation benötigten ihrerseits Erzählungen, die eine „eigene“ – möglichst weit in die Vergangenheit zurück reichende – Geschichte propagierten.

      Wissenschaft als Legitimationsinstanz

      Solche nationalen „Meistererzählungen“ bedurften einer möglichst robusten Fundierung durch historische Belege. Quellenbasierte Geschichtsdeutungen hatten größere Autorität, wodurch wissenschaftliche Forschung in den entstehenden Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts eine herausragende Funktion als Legitimationsinstanz erhielt: Philologien, Sprach- und Geschichtswissenschaften, historische [<<33] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe Geographie und Archäologie und später auch „neue“ Fächer wie die Ethnologie erarbeiteten Materialgrundlagen und Methoden, mit denen die kategorialen Grundlagen dessen geschaffen wurden, was man als Basis einer „Nation“ verstand: eine gemeinsame Sprache und Herkunft, Geschichte und Kultur.

      Die zunehmende Bedeutung nationaler Geschichtskulturen und deren Konkurrenz untereinander führten somit zu einer Aufwertung von Wissenschaft, deren Arbeits-, Organisations- und Vermittlungsformen. Dies resultierte in einem gewaltigen Schub der Institutionalisierung