Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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hinaus schärft eine vergleichende Perspektive auch den Blick für Brüche, Ausnahmen und Besonderheiten innerhalb des eigenen (nur scheinbar bekannten) Gegenstandes. Vieles, was gegenwärtig unter der Überschrift „Globalisierung“ verstärkt aus dieser Perspektive diskutiert wird, lässt sich am Beispiel Mittel- und Südosteuropas anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im räumlichen Vergleich herausarbeiten.

      Raum und Zeit

      Ähnlich wie die Kriterien der Einteilung historischer Überlieferung sind auch räumliche und zeitliche Abgrenzungen wissenschaftliche Konstruktionen, die auf bestimmten, mehr oder weniger begründeten Konventionen beruhen. Raumkonstruktionen und zeitliche Periodisierungen haben ihre jeweils eigenen Geschichten. Gleichzeitig sind sie auf komplexe Weise miteinander verschränkt. Historische [<<18] Periodisierungen bilden bestimmte Ausschnitte der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart ab. Dabei sind Wahrnehmungen zeitlicher „Epochen“ maßgeblich durch den Blick auf bestimmte räumliche Abgrenzungen mitbestimmt, und umgekehrt.

      „Zeit“ und „Raum“ als zentrale Dimensionen historischer Betrachtung und ihre Abgrenzungen sind nicht erst seit den Anfängen moderner Wissenschaft Gegenstand von fachlichen Debatten, die zudem weit über den engeren Bereich der Wissenschaft hinausreichen und immer auch politische Implikationen haben. Die Abgrenzung von „Mittelalter“ – ein Begriff, der in der europäischen „Renaissance“ erfunden wurde – und „Moderne“ etwa hat viel mit den jeweils aktuellen Vorstellungen von historischem bzw. gesellschaftlichem Fortschritt und der Kritik daran zu tun – wie sie wiederum in Gegenbegriffen, etwa dem der „Post-Moderne“, zum Ausdruck kommen.

      Vergleichbares gilt für Raumbegriffe, deren Diskussion besonders dann an Aktualität gewinnt, wenn sie und die mit ihnen verbundenen Bilder in Frage stehen. Räume operieren mit Grenzen, und Grenzen schließen ebenso ein wie aus. „Europa“ selbst ist angesichts der politischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ein eindrucksvolles Beispiel für derartige Diskussionsprozesse, die in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Debatten ihren Niederschlag finden.

      „Mittel“- und „Südosteuropa“

      In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehören die titelgebenden Begriffe dieses Buches, „Mittel-“ und „Südosteuropa“ zu jenen Raumbegriffen, um deren Verwendbarkeit, Bedeutung und genaue Verortung im Raum seit dem 19. Jahrhundert intensiv und bisweilen auch erbittert gerungen wurde. Sie sind im Laufe unterschiedlicher Phasen der Wissenschaftsgeschichte nicht weniger umstritten gewesen als „Zentraleuropa“, „Ostmitteleuropa“ und andere Bezeichnungen, die wesentliche Teile unseres Betrachtungsraumes markieren.

      Diese wichtigen Diskussionen zeigen, dass Zeit- und Raumbegriffe, die Kategorien zur Wahrnehmung der Welt darstellen, weder in der Geschichte vorfindlich noch „unschuldig“ sind: Weder ergeben sie sich „einfach“, etwa durch Ereignisse oder geographische Gegebenheiten, noch bilden sie fest gefügte Einheiten – weder abgeschlossene Epochen noch Räume, die man sich wie Container vorstellen könnte. Vielmehr sind sie in einem dichten Geflecht wissenschaftlicher Konventionen, politischer Rahmenbedingungen und unterschiedlich motivierter [<<19] Entscheidungen von Autorinnen und Autoren entsprechender Darstellungen verortet, die alle zusammen ihren Gebrauch prägen.

      Es ist nicht Gegenstand dieses Buches, die Debatten um diese Begriffe und die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen im Detail zu referieren, zumal gerade in den vergangenen Jahren zu ihren einzelnen Aspekten eine Fülle von erstklassigen Darstellungen entstanden ist. Dazu bietet etwa die Darstellung von Nora Berend, Przemysław Urbańczyk und Przemysław Wiszewski, Central Europe in the Middle Ages: Bohemia, Hungary, and Poland, c.900–c.1300 (Cambridge 2013) einen vorzüglichen Überblick.

      Eine neue Perspektive

      Im Falle unseres Buches geht es vielmehr darum, eine mittelalterliche Überlieferungsgeschichte in Europa aus einer – wie wir denken – neuen räumlich vergleichenden Perspektive zu erzählen. Deutschsprachige Einführungen in die Geschichte mittelalterlicher Überlieferung orientieren sich vielfach entlang einer Nord-Süd-Achse: Im Zentrum stehen das Heilige Römische Reich und Italien. Daneben tritt eine Verlängerung nach Westen, die Frankreich und auch England umfasst. Eher am Rande des Interesses bleiben in der Regel die iberische Halbinsel und Skandinavien ebenso wie die Gebiete östlich der Reichsgrenzen. Dabei ist zu differenzieren: Böhmen wird oft im Zusammenhang des Reichs betrachtet. In den letzten Jahrzehnten wurden auch Polen und das Baltikum in ihren Bezügen zum Reich und im Sinne einer Ostseegeschichte verstärkt in den Blick genommen. Was südöstlich der Reichsgrenzen liegt, bleibt hingegen meist terra incognita.

      Hier liegt der Schwerpunkt dieses Buches: Unsere Perspektive auf das mittelalterliche Europa richtet sich auf den Südosten Europas; der Verlauf der Donau dient dabei der groben räumlichen Orientierung. Damit fokussieren der hier gewählte Ausschnitt und seine Binnendifferenzierungen auf historische Räume, die ‒ wenn auch in unterschiedlicher Dichte ‒ über den gesamten Beobachtungszeitraum zahlreiche Bezugspunkte aufweisen. Der geographische Bogen wird gespannt vom südlichen Bayern und Salzburg, den österreichischen Ländern und dem heutigen Slowenien; Böhmen und Mähren, über Ungarn, Dalmatien und Kroatien, dem heutigen Bulgarien und Rumänien; Serbien, Bosnien und Albanien, bis zu den mittelalterlichen Kreuzfahrerstaaten in Griechenland sowie der frühen osmanischen Herrschaft auf dem Balkan. [<<20]

      Die Darstellung verbindet den Südosten des mittelalterlichen römisch-deutschen Reichs mit dem pannonischen Becken und dem westlichen Schwarzmeerraum. Die Donau bildet den einzigen schiffbaren Strom im südöstlichen Europa und ist gleichzeitig Grenze und Verbindung. So stellte sie kein Hindernis für die bis in das späte Mittelalter andauernden Wanderungsbewegungen aus der Steppenzone in Richtung Balkan dar. Die untere Donau ist bis in das 14. Jahrhundert Grenz- und Begegnungsraum von Steppenreichen, Byzanz und dem im 9. Jahrhundert christianisierten Bulgarien. Nördlich der Donau reichen die Gebiete bis südlich und östlich der Karpaten in die Walachei und die Moldau. Dies sind traditionelle Durchzugszonen, in denen stabile regionale Herrschaften erst nach 1300 entstanden, in Abgrenzung zu, aber zugleich in steter Verbindung mit Ungarn und Polen. Im Süden sind weite Teile des Balkans zur Donau hin ausgerichtet, in welche die wichtigsten Flüsse der Region münden. Zwischen Donau und Save, Adria, Ägäis und Schwarzem Meer liegt der eigentliche Balkan; seit dem 9. Jahrhundert kann er mit Dimitri Obolensky als „byzantinisches Commonwealth“ bezeichnet werden, als Raum byzantinischer Kulturprägung, und das heißt in erster Linie Orthodoxie und Übernahme byzantinischer Kulturmuster zumeist in der kirchenslawischen Liturgie- und Kultursprache. Schon die antike Geographie hatte den Balkan als räumliche Einheit begriffen (Haemushalbinsel).

      Der in diesem Buch behandelte Donau-Balkan-Raum bildet eine Betrachtungseinheit, einen Betrachtungsraum. Diesen prägen gewisse gemeinsame Merkmale, deren Untersuchung eine neue Perspektive auf die mittelalterliche europäische Geschichte eröffnet.

      Das Erbe der Alten Welt

      Weite Teile unseres Betrachtungsraumes gehören zur Alten Welt, d. h. zum antiken Römischen Imperium. In der Alten Geschichte zieht er im Vergleich zu Italien, Gallien oder Spanien verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit auf sich. Im Frühmittelalter erfolgten durch die Veränderung der sprachlich-kulturellen Landkarte durch Germanen, Slawen und Awaren unterschiedlich starke Brüche zur Alten Welt, im Inneren des Balkans stärker als im Alpenbogen. Doch dehnte sich seit dem 9. Jahrhundert der Einfluss der beiden Nachfolgereiche des römischen Imperiums, Byzanz und des Frankenreichs, politisch wie kulturell wieder in den Raum zwischen dem heutigen Österreich und dem Südwestrand des Schwarzen Meeres aus. Seit dem frühen [<<21] 15. Jahrhundert übernahm das Osmanische Reich das strategische Erbe von Byzanz als Vormacht im Süden unseres Betrachtungsraumes, während die Habsburger in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Nordwesten und Norden als eigenen Machtraum organisierten.

      Grenzen sind nicht statisch. Wie sich die einst provinzial-römische Welt in neue Raumeinheiten auflöste, wurden diese wiederum mit Gebieten verbunden, die zuvor nicht römischer Verwaltung unterstanden hatten: das alte Noricum etwa mit den böhmischen Ländern, die untere Donau mit den nordpontischen Gebieten (Nordküste des Schwarzen Meeres). Dieser geschichtlichen Dynamik unseres Betrachtungsraumes werden die räumlichen Schwerpunkte der Darstellung angepasst. Aufgrund