Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Wissenschaften im Zentrum der Habsburgermonarchie, denen Anknüpfungspunkte an eine „alte“ politische Nation fehlten, zu einer – je unterschiedlich artikulierten – Entwicklung eines deutschen Nationalbewusstseins, das sich seinerseits in einer deutschsprachigen Wissenschaftskultur äußerte. Diese lässt sich etwa an den engen Beziehungen zwischen den Universitäten in Berlin, Wien und Prag gut nachvollziehen.

      In einer Phase weiterer Verwissenschaftlichung um die Jahrhundertwende wurden die Forschungsgegenstände abermals kleinteiliger und die Methoden vielfältiger und spezialisierter. Dementsprechend verlagerten sich die Auseinandersetzungen noch stärker auf Methoden-Diskussionen. Trotz einer auch hier bestehenden Wechselwirkung [<<41] zwischen Nationalisierungspolitiken und wissenschaftlicher Entwicklung dominierten methodische Debatten um fachwissenschaftliche Spezialisierung vs. disziplinäre Öffnung die akademischen Beziehungsgeflechte, die über die politischen Brüche des Ersten Weltkriegs und seiner Konsequenzen bis in die Zwischenkriegszeit aufrecht blieben.

      1.3 Wiener Methodenausbildungen und ihre Ausstrahlung nach Südosteuropa

      Zu Beginn des 21. Jahrhunderts bemerkte Dejan Medaković, Mitglied der Serbischen Akademie und national ausgerichteter Historiker, dass „fast alle namhaften serbischen Historiker“ in Wien studiert hätten (2001). Damit meinte er insbesondere die Belgrader Mittelalter- und Frühneuzeithistoriker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In abgeschwächter Form gilt diese Aussage auch für die bulgarische, kroatische, rumänische und albanische Mittelalterforschung.

      Dejan Medaković, Serben in Wien (Novi Sad 2001), S. 196.

      Dass die Wiener mediävistische Schule stark nach Südosten ausstrahlen konnte, hatte gleich mehrere wissenschaftsgeschichtliche Gründe: Bis 1918 war Wien das kulturelle und wissenschaftliche Zentrum der Habsburgermonarchie. Die Universität Wien zog aber auch Studierende aus den jungen Balkanstaaten Serbien (autonom 1815, souverän 1878), Rumänien (autonom 1859/61, souverän 1878), Bulgarien (autonom 1878, souverän 1908) und Albanien (souverän 1912) an, die alle zumindest zeitweise politisch eng an die Donaumonarchie gebunden waren. Deren imperiale Politik hatte – wie im Zentrum – auch entscheidenden Anteil am Aufbau einer institutionalisierten Wissenschaft im seit 1878 von Österreich-Ungarn verwalteten, 1908 annektierten Bosnien-Herzegowina (vor allem über das Landesmuseum in Sarajevo), während albanische intellektuelle Eliten durch gezielte Stipendienvergabe besonders an den Universitäten Wien und Graz herangezogen wurden.

      Das Bildungswesen des jungen bulgarischen Staates wurde in seinen Anfängen von Konstantin Jireček (1854–1918), selbst Sohn eines österreichischen Bildungsministers, maßgeblich begleitet. Wien war [<<42] aber auch Zentralort der Forschung zu Südosteuropa, an dem Theorien und Methoden der philologischen, geographischen, anthropologischen und historischen Beschäftigung mit dem Raum von den österreichisch-ungarischen Reichsgrenzen bis zum Ionischen und Schwarzen Meer ausgebildet wurden. Diese zentrale Stellung Wiens kann man in drei Phasen gliedern.

      Vor der Institutionalisierung

      In einer vorinstitutionellen Phase in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Grundlagen für eine mehrdisziplinäre Erforschung Südosteuropas im Umfeld der Hofbibliothek und der Zensurbehörde sowie im diplomatischen Dienst gelegt. Auch der Begriff Südosteuropa entstand in Wien, erstmals eingeführt 1814 von dem herausragenden Philologen Bartholomäus Kopitar (1780–1844). Der hamburgische Hugenotte in Wiener Diensten Ami Boué (1794–1881) erschloss als erster Forschungsreisender den inneren Balkan (heutiges Bosnien, Serbien, Kosovo, Albanien, Makedonien) in geographischer und anthropologischer Sicht (La Turquie d’Europe, 1840). Der Diplomat Johann Georg von Hahn (1811–1869) aus Hessen schuf nicht nur die Grundlagen einer philologischen und kulturwissenschaftlichen Albanologie, sondern veröffentlichte gemeinsam mit Karl Hopf (1832–1873), dem Begründer der Erforschung Griechenlands im Mittelalter, einen ersten quellengesättigten Überblick über die mittelalterliche Geschichte der Albaner.

      Institutionalisierung: Lehrstühle und Seminare

      Die institutionalisierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Südosteuropa setzte an der Wiener Universität mit der Schaffung eines Lehrstuhls für Slawistik (1849) ein und wurde 1907 mit der Einrichtung eines Seminars für osteuropäische Geschichte abgeschlossen. Prägende Gestalt dieser Phase war Franz Ritter von Miklosich (1813–1891), ein Schüler Kopitars, dessen Arbeiten alle Sprachen Südosteuropas, vom Altkirchenslawischen bis zur Sprache der Roma, umfassten. Zur Mittelalterforschung trug er durch Editionen slawischer und byzantinischer Urkunden bei.

      Die herausragende Stellung der philologischen Methode kennzeichnet auch die Generation des Slawisten Vatroslav Jagić (1838–1923) und des Historikers Konstantin Jireček, den man als zentrale Figur der Balkanmediävistik bezeichnen kann. Jireček erschloss das Archiv von Dubrovnik als Hauptquelle nicht nur für die mittelalterliche Geschichte Serbiens, Bosniens und Albaniens, sondern auch insgesamt [<<43] für die historische Forschung. Seine Geschichte der Serben (2 Bde., 1911–1918) und Staat und Gesellschaft im mittelalterlichen Serbien (4 Bde., 1912–1919) gelten heute noch als Standardwerke. Jireček schuf eine eigene Schule serbischer, aber auch bulgarischer Mediävisten, die in ihren Herkunftsländern die Wiener Methode verbreiteten. Diese bestand in einer kritischen Analyse erzählender Quellen und vor allem der Heranziehung archivalischer Dokumente. Als entscheidend erwies sich gerade für Serbien der Impuls zur Abkehr von einer nationalromantischen Schule, die das Mittelalter nach dem Vorbild der europäischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts verklärt und in den Dienst der Theorie von einer nationalen Wiedergeburt nach dem Ende der osmanischen Herrschaft gestellt hatte.

      Neue Forschungsfelder

      Auch in der Bestimmung der Forschungsfelder erwies sich Jireček als Pionier und Anreger: Institutionen- und Rechtsgeschichte, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, historische Geographie, Literaturgeschichte besonders des mittelalterlichen Dubrovnik charakterisieren ein Forschungsinteresse, das weit über eine eng gefasste politische Ereignisgeschichte hinausreichte. Daneben kam der Grundlagenforschung erhebliches Gewicht zu: Jireček legte Editionen serbischer Urkunden vor und veröffentlichte gemeinsam mit dem Kroaten Milan von Šufflay (1879–1931) und dem Ungarn Ludwig von Thallóczy (1857–1916) ein heute noch maßgebendes Urkundenbuch zur mittelalterlichen albanischen Geschichte (1913–1918). Da Jirečeks ehemalige Dissertanten wie die Serben Jovan Radonić (1873–1953) und Stanoje Stanojević (1874–1937) oder der Bulgare Petăr Nikov (1884–1938) ebenfalls schulbildend wirkten, erstreckte sich Jirečeks Einfluss besonders auf die serbische Mediävistik bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bestes Beispiel ist der bedeutende serbische Mediävist Sima Ćirković (1929–2009).

      Diese Schulen übernahmen von Jireček weitgehend Methode und Themenwahl, freilich mit einer bemerkenswerten Ausnahme: Ein serbisches Urkundenbuch wurde erst vor kurzem vorgelegt, beinahe hundert Jahre nach Jirečeks Tod und nach vielen vergeblichen Anläufen (→ Kap. 3.2.7). Ein größeres bulgarisches Urkundenbuch des Mittelalters kann wegen des fast völligen Verlusts der Dokumente kaum erstellt werden. Ganz anders gestaltet sich hingegen die kroatische Urkundenforschung: Nicht nach Wiener Vorbild, sondern nach dem [<<44] Modell der MGH arbeitet die als Südslawische Akademie gegründete heutige Kroatische Akademie der Wissenschaften an einer umfassenden Sammlung der die Südslawen betreffenden mittelalterlichen Urkunden mit Schwerpunkt auf der kroatischen Vergangenheit (Monumenta historica Slavorum meridionalium, seit 1863). Dieselbe Akademie betreut auch das kroatische Urkundenbuch (seit 1904).

      Zwischenkriegszeit (1918–1938)

      Als dritte Phase eines freilich nunmehr schwindenden Wiener Einflusses auf die südosteuropäische Mediävistik kann die Zeit 1918–1938 angesehen werden. Das Ende der Monarchie und die tiefe Krise des Nachfolgestaates Österreich führten zu einem allmählichen Rückgang der Forschungsmöglichkeiten und -kompetenzen. 1934 wurden der Lehrstuhl für Balkangeschichte und das nach 1918 eingerichtete Balkaninstitut aus Spargründen geschlossen. Doch wirkte das Erbe der Jahrhundertwende noch nach, diesmal vor allem auf bulgarische und albanische Studierende, d. h. Angehörige von Österreich-Ungarn im Ersten