Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
Скачать книгу
19. Jahrhunderts von Wiener Slawisten, Geographen und Diplomaten entwickelt und diente der räumlich-kulturellen Strukturierung der an das Habsburgerreich angrenzenden europäischen Provinzen des damaligen Osmanischen Reichs. In dieser Region verfolgte die Donaumonarchie bis zu ihrem Ende 1918 weitreichende außenpolitische Interessen. Außenpolitik und historische Forschung verliefen oft parallel, bisweilen in Personalunion repräsentiert von Historiker-Diplomaten. In der so konstruierten Region wurde der Begriff „Südosteuropa“ im 20. Jahrhundert als neutralere Begriffsvariante zum oftmals als negativ belastet empfundenen Terminus „Balkan“ verwendet und schließlich in die Begrifflichkeit der Vereinten Nationen aufgenommen. Der Blick von außen und die Wahrnehmung von innen können in einer derart konstruierten Geschichtsregion durchaus konvergieren, sie müssen es aber nicht.

      Ähnliches gilt für den Begriff „Mitteleuropa“, der im Ersten Weltkrieg den Expansionsraum der verbündeten Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn umschrieb, aber auch zur Erfassung der kulturell vielfältigen Gebiete des Heiligen Römischen Reichs verwendet werden kann. Umso wichtiger ist es, beide Blickweisen sichtbar zu machen. In diesem Buch geschieht dies auch dadurch, dass Autorinnen und Autoren sowohl aus den Ländern unseres Betrachtungsraumes wie auch außerhalb desselben zu Wort kommen. Geschichtsräume sind nicht statisch; auf ihre möglichen ideologischen Konnotationen ist hinzuweisen. Sie sind aber sinnvolle räumliche Betrachtungseinheiten, die helfen, die weit anachronistischere Konstruktion vermeintlich linearer Nationalgeschichten zu vermeiden.

      Aktualität des Mittelalters

      Ein Wort noch zu den gegenwärtigen Bedeutungen des „Mittelalters“ in diesem Raum: Sie sind, wie vieles in unserer Betrachtungseinheit, nicht auf einen schlichten Nenner zu bringen. Mittelalterwellen, Mittelalternostalgie, sommerliche Turnieraufführungen und Computerspiele zu mittelalterlichen Themen dominieren im Westen unseres Betrachtungsraumes. In vielen Gesellschaften Südosteuropas besitzt die Epoche bis in die Gegenwart aber auch eine politische Dimension: Die Begründung von Eigenstaatlichkeit und Gebietsansprüchen wird aus [<<26] der mittelalterlichen Geschichte abgeleitet, ebenso wie Vorstellungen nationaler Größe und nationaler Selbstvergewisserung. Mittelalterliche Geschichte findet also nicht nur zwischen oftmals trivialisiert-kommerzialisierter Verwendung und wissenschaftlicher Forschung statt, sondern ist auch Teil eines politischen Feldes. Daher widmen wir uns im ersten Kapitel dieses Buches etwas ausführlicher einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung der Mediävistik in diesem Raum.

      Aufbau der Darstellung

      Die diesem ersten wissenschaftshistorischen Kapitel folgenden drei Abschnitte verschränken chronologische, geographische und soziale wie kulturelle Aspekte der Überlieferung. Vor dem Hintergrund der soeben umrissenen Periodisierungsprobleme folgen sie erstens pragmatisch einer groben zeitlichen Gliederung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, die in der deutschsprachigen Mediävistik üblich ist. Die breite räumliche Perspektive macht den Charakter einer solchen Einteilung nur als Hilfsmittel zur Orientierung – und nicht mehr – besonders deutlich.

      Logik der Überlieferung

      Sie wird daher zweitens ergänzt und verschränkt mit einer Einführung in die sozialen Räume und kulturellen Milieus, in denen in jedem dieser Zeiträume tendenziell die umfangreichste oder eine deutlich ansteigende Überlieferung zu verzeichnen ist, sowie besonders gute Chancen ihres längerfristigen Bestandes. Das ist für das Frühmittelalter die Kirche als wichtigste Überlieferungsträgerin. Im Hochmittelalter hat die urkundliche Überlieferung auch für die Rechts- und Verwaltungspraxis weltlicher Herrschaftsträger zunehmenden Anteil an der Überlieferung, ergänzt durch die Vielzahl von Objekten schriftlicher, bildlicher und materieller Kultur, die Zeugnis von höfischer und adeliger Repräsentation geben. Im Spätmittelalter kann Stadtentwicklung als paradigmatisch für den enormen Anstieg an zunehmend organisierter pragmatischer Schriftlichkeit und vergleichbaren materiellen Überlieferungsformen gelten.

      Auch diese Typologie versteht sich in erster Linie als grobe Orientierungshilfe: Selbstverständlich sind im geistlichen Milieu entstandene Quellen über weite Strecken auch im Hoch- und Spätmittelalter dominant, doch im Zeitraum davor sind sie gemeinsam mit den spärlichen historiographischen Nachrichten aus dem Betrachtungsraum bzw. der fränkischen, langobardischen und byzantinischen Geschichtsschreibung über ihn oft die einzige erzählende Überlieferung. [<<27] Selbstverständlich gibt es auch im Frühmittelalter bereits Urkunden. Sie sind maßgeblich für die Etablierung eines robusten raum-zeitlichen Gerüsts. Richtiggehende Urkundenlandschaften entstehen allerdings in den meisten Regionen erst im Hochmittelalter, wo sie ihrerseits zur Konstituierung des Raumes beitragen. Selbstverständlich gab es pragmatische Schriftlichkeit bereits in den gut organisierten Reformorden des 12. und 13. Jahrhunderts und zunehmend auch in fürstlichen Kanzleien. Die systematische und serielle Überlieferung, die teilweise sogar vorsichtige quantitative Auswertungen möglich macht, ist allerdings besonders charakteristisch für die spätmittelalterliche Stadtkultur.

      Die Orientierung an der Logik der Überlieferung und deren zunehmende Dichte, die sich nicht zuletzt in den Proportionen der Kapitel widerspiegelt, ist ungewohnt und liegt teilweise quer zum gewohnten chronologischen Aufbau von Überblicksdarstellungen, der als Rahmen auch diesem Buch zugrunde liegt. In allen Abschnitten werden wir daher zusätzlich zu Überblicksdarstellungen zur Forschungssituation besonderes Augenmerk auf die Diskussion solcher Überlappungen und auf vergleichende Differenzierungen legen.

      Fallstudien

      Das dritte Strukturprinzip der Darstellung ist jenes der exemplarischen Fallstudien, für die wir teilweise auf die Expertise von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fächern und mit spezifischen Sprach- und Materialkenntnissen zurückgreifen, um der räumlichen und damit auch sprachlichen Heterogenität der Überlieferung in Mittel- und Südosteuropa Rechnung zu tragen. Eine einführende Darstellung wie diese kann dabei nicht enzyklopädisch, sondern nur exemplarisch vorgehen, um die Vielfalt und Komplexität der Gegenstände auch methodisch fassbar zu machen.

      Ein kulturhistorischer Zugang zu historischen Quellen fokussiert auf das „Wie“ und „Warum“ ihrer Herstellung, Rezeption und Zirkulation im Kontext von sozialen Lebensformen und kulturellen Vorstellungen. Der Aufgabe einer vergleichenden einführenden Darstellung als Wegweiser oder Orientierungshilfe gerecht zu werden, erfordert daher Schwerpunktsetzungen. „Exemplarisch“ ist angesichts der unterschiedlichen Größenordnungen der vorhandenen Überlieferung daher weniger im Sinn von „repräsentativ“ zu verstehen, sondern mit einem weiteren Begriff von Arnold Esch (1985) als „maßstäblich“: [<<28]

      Wie lässt sich die jeweils präsentierte Überlieferung im Vergleich einordnen? Frühe erzählende Quellen wie die Lebensbeschreibung des Hl. Severin aus dem 6. Jahrhundert oder jene der Hl. Method und Kyrill, die dreihundert Jahre später geschrieben wurden, sind für den jeweiligen Überlieferungsraum singulär, während es vergleichbare Quellen im Westen und Süden des ehemaligen Römischen Reichs in deutlich größerer, aber immer noch überschaubarer Zahl gibt und die Überlieferung von Heiligenviten ab dem 12. Jahrhundert sprunghaft anwächst. Aber auch hier ist die räumliche Verteilung im Betrachtungsraum sehr ungleichmäßig. Am eindrücklichsten ist in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts der Gegensatz zwischen Papst Innozenz III. und dem bulgarischen Patriarchen Visarion. Während für das Oberhaupt der römischen Kirche eine enorme Fülle an Urkunden und Registereinträgen erhalten ist, wissen wir von der Existenz seines kirchlichen Gegenübers nur durch eine kurze Inschrift und ein zufällig überliefertes Siegel (Abb 1). Umfasst das niederösterreichische Urkundenbuch insgesamt über 150 Urkunden in 36 Gruppen bis zum Jahr 1076, das babenbergische Urkundenbuch einige hundert Stück bis 1246, und verzeichnen die Regesten der Bischöfe von Passau für denselben Zeitraum knapp 2000 Dokumente, so gibt es in Bulgarien oder den rumänischen Fürstentümern Walachei und Moldau bis ins 14. Jahrhundert aus unterschiedlichen Gründen (Urkundenverlust, spätes Einsetzen der Urkundenausstellung) nur einige wenige Einzelstücke.