Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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gegenüber Gebieten wie Dalmatien weniger intensiv behandelt.

      Religiöse Diversität

      Nicht nur die politische und kulturelle Überschichtung durch überregionale Großreiche kennzeichnen unseren Betrachtungsraum. In einem komplizierten Wechselspiel von Abgrenzung und Begegnung bildete sich zudem eine Grenzzone zwischen römisch-„katholischer“ und „orthodoxer“ Kirche heraus. Jenseits aller zumeist vereinfachenden Absolutsetzungen von Kulturgrenzen, denen es oft an historischer Tiefe mangelt, ist die allmähliche Herausbildung von maßgeblichen Differenzen unterschiedlich konfessionell geprägter Lebensformen eine der wesentlichen langfristigen Entwicklungen der mittelalterlichen Geschichte unseres Betrachtungsraumes. Andererseits gibt es eine Vielfalt von Verbindungen und Übergangsformen in konfessionellen Überlappungsgebieten wie etwa dem heutigen Albanien. Zudem bildet unser Betrachtungsraum bis ins Spätmittelalter das Zielgebiet eurasiatischer Wanderungsbewegungen und Herrschaftsbildungen, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit dem Mongolenreich einen Höhepunkt erreichten.

      Periodisierungen

      Die zeitliche Abgrenzung des Mittelalters – das Ende des Römischen Reichs zum einen, der Fall Konstantinopels 1453 oder die Entdeckung Amerikas 1492 zum anderen – scheinen klare zeitliche Wegmarken darzustellen. Doch war es in der Forschung keineswegs unstrittig, ob das Ende des Römischen Reichs einen tiefen Bruch hervorrief oder ob nicht vielmehr von einem allmählichen Übergang zu [<<22] sprechen ist (→ Kap. 2.2). Blickt man noch genauer hin, wird deutlich, dass allzu eindeutige Interpretationen kaum für unseren gesamten Betrachtungsraum zutreffen: Noricum an der oberen und mittleren Donau und die zentralbalkanischen Gebiete des antiken Römischen Reichs haben sehr unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen.

      Ähnlich heterogen stellt sich die Lage für den Abschluss der osmanischen Eroberungen auf dem europäischen Kontinent dar. Während das Jahr 1526 (als in der Schlacht bei Mohács das ungarische Königtum geschlagen wurde, die Habsburger die ungarische Krone nominell übernahmen und die Osmanen ihre Herrschaft im pannonischen Becken etablierten) im Westen des gewählten räumlichen Ausschnitts für die ungarische und österreichische Geschichte einen maßgeblichen historischen Einschnitt darstellt, begann dieser Prozess an seinem östlichen Ende bereits mehr als 150 Jahre vorher: Als Symboldatum gilt die Festsetzung der Osmanen in Gallipoli/Gelibolu an den Dardanellen (1354).

      Dazwischen liegen also eineinhalb Jahrhunderte unterschiedlich „dichter“ osmanischer Herrschaft mit ebenso unterschiedlichen Auswirkungen, nicht zuletzt auf die Überlieferung. Während für Byzanz, die orthodoxen Balkanstaaten und auch Ungarn zwischen dem späten 14. und dem frühen 16. Jahrhundert das Mittelalter endet, beginnt es anderswo erst im 14. Jahrhundert. Diese Ungleichzeitigkeit verdeutlicht die Fragwürdigkeit einer ganz Europa umfassenden und damit nivellierenden Begrifflichkeit. Denn im Falle der rumänischen Geschichtsbetrachtung beginnt das Mittelalter wesentlich mit der Bildung eigener Herrschaften südlich und östlich der Karpaten (ca.1330‒ca.1360) in der Walachei und der Moldau, die sich aus dem zerfallenden Reich der mongolischen Horde sowie dem ungarischen Einfluss lösten. Mit der Herrschaftsbildung beginnt auch eine eigene Schriftlichkeit in Fürstenkanzleien. Rumänische Historiker betrachten die Epoche bis zur Einsetzung griechischer Fürsten aus Konstantinopel (sog. Phanarioten) als Mittelalter – ein Mittelalter, das im 14. Jahrhundert anhebt und 1711 symbolisch ein Ende findet.

      Ebenso wenig geeignet ist der westliche Mittelalterbegriff auch für die osmanische Geschichte, demzufolge deren Anfänge im südosteuropäischen Spätmittelalter liegen: Anfang und Ende fallen hier zeitlich zusammen. Das uns vertraute Mittelalter endet also nicht [<<23] nur in der Zeit, sondern auch im Raum. Genauso wenig wie die zeitlichen Grenzen klar festzulegen sind – Daten bieten nur symbolhafte Orientierung – ist dies im Raum möglich. Unser Betrachtungsraum kennzeichnet sich gerade durch die Verdichtung dieser raum-zeitlichen Ambivalenz.

      Standort und Perspektive

      Geschichtsschreibung ist immer kontextgebunden und perspektivisch. Sie wird immer vom Standort der Betrachtenden aus erzählt. Das gilt für die moderne Geschichtsschreibung und ihre akademischen Ausformungen im Wissenschaftsbetrieb ebenso wie für den Umgang mit Vergangenheit in der Überlieferung selbst. Da wie dort werden Teile dieser Standortgebundenheit reflektiert, andere fließen unbewusst oder zufällig in die Überlieferung ein. Die Wahl eines Standorts aber ist Voraussetzung für die Konstruktion der Perspektive. Wie bei jeder Wahl einer Perspektive werden dabei manche Phänomene weniger beleuchtet als andere oder geraten an den Rand des Blickfelds.

      In diesem Buch dient der Standort Wien zwar nicht als Zentrum, aber sehr wohl als einer von mehreren Ausgangspunkten der Betrachtung (→ Kap. 1.3). Diese Wahl hat gewiss mit unserer akademischen Verortung zu tun. Diese allein würde das Vorgehen aber nicht rechtfertigen. Wer eine südöstliche Perspektive auf das europäische Mittelalter wählt, kommt an der Bedeutung Wiens für die Forschungsgeschichte nicht vorbei. Diese wird im ersten Kapitel genauer erläutert. Hier nur so viel: Für Generationen von Mediävisten und Mediävistinnen, die sich mit dem skizzierten Zeit-Raum befassten, war Wien seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein wesentlicher Ort der Ausbildung, Anregung, aber auch der politischen Reibung. Polen, Tschechen und Ungarn, besonders aber Serben, Bulgaren, Albaner und Rumänen, Kroaten und Slowenen studierten in Wien – Frauen waren allerdings erst ab 1897, und zunächst nur an der philosophischen Fakultät zum Studium zugelassen – und nahmen wichtige Anstöße mit in ihre Herkunftsgebiete, wo sie in den politischen, sozialen und religiösen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts in unterschiedlicher Weise weiterentwickelt wurden.

      Im Rahmen des – trotz zunehmender nationaler Konflikte – ganz Europa umfassenden Geflechts von wissenschaftlichen Kontakten und Formen des Austausches war Wien keinesfalls der einzige Bezugspunkt der akademischen Eliten aus den genannten Ländern: Berlin, [<<24] Leipzig und Paris zogen ebenfalls und oftmals mehr Studierende aus Mittel- und Südosteuropa an als Wien. Die Wahl eines anderen Standorts als Ausgangspunkt wäre daher ebenso legitim wie möglich; sie wurde in entsprechenden wissenschaftshistorischen Fallstudien auch getroffen. Für die hier in den Blick genommenen Räume und ihre Entwicklung war allerdings Wien einer der wichtigsten Zentralorte der europäischen Mittelalterforschung.

      Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kann eine Geschichte der Überlieferung daher im doppelten Sinn nicht „unschuldig“ sein. Sie muss immer danach fragen, was von konkreten Quellen erwartet werden darf – in ihrem spezifischen historischen Kontext, mit ihren Chancen auf Überlieferung, aber auch durch Zufälle, welche sie vielleicht wider Erwarten bewahrt haben. Gleichzeitig müssen sich Historikerinnen und Historiker ebenso ihrer eigenen Erwartungshaltungen bewusst sein. Nicht einmal die „ideale“ Überlieferungslage bildet Geschichte ab, denn die Quellen sprechen nur, wenn man Fragen an sie richtet, und von den Fragen hängen ihre Antworten ab. Umgekehrt haben die Quellen gemäß einem berühmten Diktum von Reinhart Koselleck ein „Vetorecht“: Historische Interpretationen dürfen nicht „gegen“ die Überlieferung oder an ihr vorbei erfolgen. Was zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielleicht eine wissenschaftstheoretische Selbstverständlichkeit ist, war gerade hinsichtlich der Geschichte der wissenschaftlichen Quellenerschließung und -bearbeitung lange keine.

      Die ungeheuer verdienstvollen monumentalen Quellensammlungen, -editionen und -dokumentationen des 19. und 20. Jahrhunderts, die vielfach bis heute die Basis historischen Arbeitens darstellen, dienten gleichzeitig maßgeblich der Konstruktion und Legitimation jener entstehenden Nationalstaaten, in deren Kontext sich auch die akademischen Wissenschaften entwickelt haben. Dementsprechend wurde die Objektivität der Überlieferung zuweilen für scheinbar unparteiische, oft jedoch auch für offen politische Zwecke nachdrücklich bemüht.

      Aber auch Geschichtsregionen, die bewusst nationale Grenzen überschreitend gedacht werden, entstehen als historische Konstrukte in einem Kontext, dessen außerwissenschaftliche Dimension verdeutlicht werden muss. Die Konstruktion historischer Räume – ob nun Nationalstaaten, deren Geschichte weit in die Vergangenheit projiziert wird, oder Großregionen wie Mittel- und Südosteuropa – [<<25] kann als Akt wissenschaftlicher und auch politischer Machtausübung verstanden werden.

      „Mittel“-