Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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und Bukarest zu, wo direkt oder indirekt vom Wiener Methodenraum beeinflusste Mediävisten Institute und Schulen aufbauten. Neue wissenschaftliche Bezugsorte in Frankreich, Italien und Deutschland aber übernahmen zunehmend das wissenschaftliche Erbe der Donaumonarchie.

      Der österreichische Ständestaat (1934–1938) hatte die Wiener Balkanforschung bereits stark zurückgedrängt, als der Nationalsozialismus in Wien eine neue Richtung vorgab: die einer „Südostforschung“ im Dienste der NS-Raumpolitik. Nach 1945 verlagerte sich der Schwerpunkt der deutschsprachigen historischen Südosteuropaforschung in die Bundesrepublik Deutschland, wobei Forschungen zum Mittelalter fast ganz zugunsten der jüngeren Epochen vernachlässigt wurden.

      Der Wiener Einfluss auf die historische Forschung zu Südosteuropa war hingegen stark mediävistisch geprägt. Hier trafen sich die Bedeutung der mittelalterlichen Geschichte im Rahmen der allgemeinen Geschichtsforschung in Mitteleuropa und besonders in Wien mit dem Interesse südosteuropäischer Studenten an ihrer Nationalgeschichte: Denn die jungen Balkanstaaten suchten nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft einen Anknüpfungspunkt im Mittelalter, um eine fortlaufende nationale Erzählung zu konstruieren, die nicht erst im [<<45] 19. Jahrhundert einsetzt. Die wissenschaftliche Methode im Umgang mit dem Quellenmaterial wurde dabei in Wien vermittelt, durch – nahezu ausschließlich männliche – Gelehrte, die ihrerseits unter dem Einfluss der Methoden der allgemeinen österreichischen Mittelalterforschung standen. Darauf beziehen wir uns, wenn in diesem Buch der Wiener Methodenraum angesprochen wird.

      Die Übernahme von Methoden und Fragestellung ist dabei auch hier nicht gleichzusetzen mit kultureller oder gar politischer Sympathie für Österreich-Ungarn. Im Gegenteil, gerade serbische und rumänische Absolventen der Wiener Schulen engagierten sich in ihren Heimatländern nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch, und zwar sehr oft gegen die Donaumonarchie: Jovan Radonić zählt zu den führenden großserbischen Ideologen, und der Rumäne Ion Nistor (1876–1962), der bei Jireček eine heute noch lesenswerte Abhandlung zur Handelsgeschichte der Moldau vorgelegt hatte, wirkte nach 1918 maßgeblich an der Rumänisierung der Universität Czernowitz mit, die unter seiner Ägide zum Mittelpunkt ultranationalistisch-antisemitischer Umtriebe wurde.

      Unpolitisch war freilich auch die Wiener Forschung nicht, wenngleich sich ihre zentralen Gestalten Miklosich, Jireček und Jagić nicht von der Balkanpolitik der Donaumonarchie vereinnahmen ließen. Doch ist die Beschäftigung mit dem albanischen Mittelalter und das erwähnte Urkundenbuch auch vor dem Hintergrund des österreichisch-serbischen Konflikts um Nord- und Mittelalbanien zu sehen, der 1913 fast zum Krieg geführt hätte. Beide Seiten argumentierten mit auf das Mittelalter zurückgehenden historischen Rechten, und bei Verhandlungen um die Ostgrenze des 1912 geschaffenen albanischen Staates im Jahre 1913 zitierten österreichische Diplomaten serbische Klosterurkunden aus dem 14. Jahrhundert.

      Führende Mediävisten der Donaumonarchie wie Jirečeks Kollegen Milan von Šufflay (1879–1931; von serbischen Agenten ermordet, was Albert Einstein und Heinrich Mann in einem internationalen Appell anprangerten) und Ludwig von Thallóczy (1857–1916) zählten zu den führenden Vertretern kroatischer bzw. ungarischer Nationalpolitik. Thallóczy verfasste etwa im Auftrag des österreichisch-ungarischen Außenministeriums die erste albanische Geschichte, die unter dem Namen des albanischen Übersetzers verbreitet wurde und [<<46] die albanische Geschichtsauffassung nachhaltig prägte. In Bosnien wirkte er sowohl als hoher Beamter wie als einer der Begründer der bosnischen Mediävistik.

      In der Zwischenkriegszeit, besonders den zwanziger Jahren, sammelten sich im Umfeld der Wiener Universität albanische, makedonische und kroatische Studenten, deren Vereine in engem Kontakt zu Untergrundgruppen standen, die Anschläge gegen das 1918 geschaffene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien) durchführten. Diese Politisierung des sozialen Raumes Universität schränkte aber die Rezeption der Wiener Methoden offensichtlich nur wenig ein – derart konkurrierende Historiographien wie die serbische und die albanische bezogen sich gleichermaßen auf sie. Die Osteuropaforschung wurde zwischen 1934 und 1945 zuerst vom sogenannten Ständestaat mit Sparmaßnahmen eingeschränkt, dann vom Nationalsozialismus weitgehend für seine Zwecke missbraucht. Nicht zufällig wurden zwei der führenden Sprachwissenschaftler, Nikolaj Trubeckoj (1890–1938) und Norbert Jokl (1877–1942), Opfer des Regimes.

      1.4 Ausblick: nach 1945 – nach 1989

      Die europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat durch die Teilung des Kontinents in zwei machtpolitische und ideologische Blöcke, die sich ihrerseits – wie zuvor nationalstaatliche Ideologien, kulminierend im Nationalsozialismus – maßgeblich auf die Wahrnehmung von Geschichte und die Konstruktion von Geschichtsbildern ausgewirkt hat, ebenso nachhaltig die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Bilder einschließlich der methodischen Erschließung und Aufbereitung historischer Überlieferung beeinflusst. Anders als im 19. und 20. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit, als wissenschaftliche Kommunikation trotz politischer Brüche zwar eingeschränkt, aber dennoch auch grenzüberschreitend weiter stattfand, hat der Totalitarismus des 20. Jahrhundert zu vielfach bis heute wirksamen Unterbrechungen des fachlichen wie methodischen Austausches geführt.

      Fallbeispiele in Langzeitperspektive

      Die grundlegende Wende von 1989 kann daher nicht hoch genug eingeschätzt werden. Seither hat die politische Öffnung eine Vielzahl [<<47] von Initiativen zur Wiederaufnahme, Intensivierung und Stabilisierung des wissenschaftlichen Dialogs ermöglicht. Jedoch auch hier macht gerade die südosteuropäische Blickachse deutlich, wie heterogen und regional spezifisch die Auswirkungen der politischen Wende auf gesellschaftliche und damit auch wissenschaftliche Perspektiven waren: Der gewaltsame Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und die weitgehend friedliche, aber von schweren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen geprägte Übergangsepoche in Bulgarien und Rumänien hatten in den einzelnen Ländern ganz unterschiedliche Konsequenzen.

      In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, aber auch in Bulgarien und Rumänien differenzierte sich die Forschung in den letzten drei Jahrzehnten in ein weitgehend selbstreferentielles, nach außen hin abgeschlossenes nationalkonservatives Lager einerseits und Gruppen von Historikerinnen und Historikern, die nach der Isolation im Kommunismus bewusst die Integration in eine gesamteuropäische Historikergemeinschaft anstreben, andererseits. Die Mittelalterforschung spiegelt so im Kleinen Gesellschaften mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wider.

      Es ist daher kaum verwunderlich, dass eine gesellschaftlich und politisch kritische und inhaltlich differenzierte Wissenschaftsgeschichtsschreibung der Nachkriegszeit (nach 1945) sowie der jüngeren Vergangenheit bis einschließlich der letzten drei Jahrzehnte seit Ende der kommunistischen Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa geographisch, institutionell und disziplinär äußerst unterschiedlich stark entwickelt ist. Dies wiederum hat seinerseits Auswirkungen auf den aktuellen Stand der jeweiligen Auseinandersetzung mit Gegenständen und Themen der Mittelalterforschung und der Einschätzung und Interpretation der Überlieferung.

      Ein Fallbespiel für diese zudem vielfach gebrochenen Forschungsgeschichten bietet in diesem Buch der Überblick von Miklós Takács in Kap. 2.4.2 zur Mittelalterarchäologie der Provinz Woiwodina seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu den Veränderungen nach 1989; ein weiteres die in Kap. 4.6.4 diskutierte Erschließung und Interpretation mailändischer Gesandtenbriefe durch die historische Südosteuropaforschung vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart hinsichtlich der Konstruktion des als Nationalhelden gefeierten albanischen Fürsten Georg Kastriota Skanderbeg (1405–1468). [<<48]

      An dieser Stelle müssen einige Beispiele als Ausblick auf zukünftige Forschungsaufgaben genügen: Zeitlich konsequent fand in unserem Betrachtungsraum eine umfassende Aufarbeitung der Verflechtung von Wissenschaft und Politik in den europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zuerst und systematisch in der Bundesrepublik Deutschland statt. Diese Aufarbeitung erfasste auch die Mittelalterforschung und mit ihr die historischen Hilfswissenschaften und ihre Vertreter und wenigen Vertreterinnen. In Österreich, wo politisch lange die These seiner Rolle als „Opfer“ nationalsozialistischer