Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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frommen Handelns, das mit der Möglichkeit für Eugippius korrespondiert, „einen Heiligen aus einer Grenzregion als Begründer einer frommen Gemeinde in Italien darzustellen und sein Vorbild in der kirchenpolitischen Diskussion seiner Zeit wirksam werden zu lassen“.

      Kate Cooper, The Widow as Impressario: Gender, Legendary Afterlives, and Documentary Evidence in Eugippius’ Vita Severini, in: Maximilian Diesenberger, Walter Pohl (Hg.), Eugippius und Severin. Der Autor, der Text und der Heilige (Wien 2001), S. 53–63, hier S. 63.

      Denn das „richtige“ geistliche Leben, auch das monastische, war in den politisch-geistlichen Parteiungen im Süditalien des 6. Jahrhunderts ebenso umstritten wie dreißig Jahre vorher in Ufernoricum. Die Schwierigkeiten Severins, angesichts der Verantwortung für die ihm Anvertrauten eine Balance zwischen den geistlichen Modellen der vita contemplativa und der vita activa zu finden, sind ein wichtiger Hinweis darauf. Bezieht man die beiden Handlungskontexte aufeinander, lässt sich das commemoratorium des Eugippius als Dokument einer komplexen Praxis des Umgangs sowohl mit zeitgenössischen Grenzerfahrungen als auch mit Gemeinschaftsvorstellungen lesen.

      Ré-écriture

      Auf vergleichbare Herausforderungen verweist die geistliche Überlieferung durch das gesamte Mittelalter trotz zunehmend etablierter Ordensstrukturen. Immer wieder neue Reformbewegungen und Auslegungen bestehender Regeln geben davon ebenso beredtes Zeugnis wie die Rezeption von exemplarischen Heiligenleben. Der bei weitem größte Teil dieses zentralen Bestandteils erzählender mittelalterlicher Überlieferung ist in meist Jahrhunderte später entstandenen Handschriften überliefert. So ist die Vita des Heiligen Severin seit dem 11. Jahrhundert in über 50 Handschriften v. a. in Italien, Bayern und Österreich überliefert. Das hat einerseits mit Überlieferungsverlusten älterer Textträger zu tun. Andererseits dienten die vielfachen und dabei oft auch modifizierten Abschriften – Textteile wurden weggelassen oder ergänzt und ausgeschmückt –, ihre ré-écriture jeweils unterschiedlichen Zwecken. Im Fall der Lebensbeschreibung Severins [<<88] etwa wurde im hochmittelalterlichen Bistum Passau die Kontinuität zum spätantiken Bistum Lauriacum/Lorch vor allem zur Begründung von weitreichenden kirchenpolitischen Ansprüchen herangezogen, ohne dass dabei der Heilige selbst oder sein Hagiograph eine besondere Rolle gespielt hätten (→ Kap. 3.2.2).

      Fallbeispiel: Die Salzburger Überlieferung des 8. und 9. Jahrhunderts

      Ende der spätantiken Kirchenorganisation

      Die in der Severins-Vita so eindrucksvoll dokumentierte spätantike Kirchenorganisation ging in den Grenzgebieten des einstigen Römischen Reichs an der mittleren Donau um 490 zu Ende. Die letzten Nachrichten über den Metropolitanverband von Aquileia sind aufgrund von kirchenpolitischen Kontroversen rund um die Synode von Grado (572/vor 577) erhalten, als deren Teilnehmer die Bischöfe von Scarabantia/Ödenburg, Celeia/Cilli, Emona/Laibach, der binnennorischen Bistümer Teurnia und Aguntum/Lavant sowie Sabiona/Säben und Trient genannt werden. Nach dieser letzten „Momentaufnahme“ gibt es lange nahezu keine Nachrichten mehr. In den folgenden Jahrzehnten vollzog sich eine völlige Neuordnung der ehemaligen römischen Provinzen. Eine Folge der Auseinandersetzungen ist das Fehlen jeglicher schriftlicher Überlieferung aus diesem Raum in den nächsten gut hundert Jahren. Sie setzt erst mit der von den bayerischen Herzögen aus dem Geschlecht der Agilolfinger initiierten Missionsbewegung durch angelsächsische, irische und fränkische Mönche wieder ein.

      Geschichtsschreibung „von außen“

      Über den Zeitraum dazwischen sind wir siedlungsgeschichtlich nahezu ausschließlich durch archäologische und linguistische Befunde informiert sowie durch die Nachrichten der byzantinischen Historiographen Prokópios, Agathias, Ménandros und Jordanes, die Historia Langobardorum des Paulus Diaconus sowie die fränkischen Autoren Venantius Fortunatus und Gregor von Tours bzw. die sogenannte Chronik des Fredegar.

      Bis zum Tod Theoderichs des Großen (536), dessen Heer Odoaker besiegte und dessen Reich seinen Mittelpunkt in Ravenna hatte, dominierten die Goten auch den Ostalpen- und Donauraum. Danach ging die ostgotische Herrschaft in diesem Raum an die Franken unter [<<89] dem Herrschergeschlecht der Merowinger über, während die Gebiete weiter im Osten im Zuge langwieriger Auseinandersetzungen mit dem ost-römisch/byzantinischen Kaisertum neu geordnet wurden. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielten die Langobarden, die ihre Siedlungsgebiete um 500 im Donauraum ‒ im ehemaligen Gebiet der Rugier ‒ hatten, wie Gräberfelder im niederösterreichischen Hollabrunn und Krems belegen. Sie sind in der Folge in Pannonien nachweisbar und ab 568 in Oberitalien mit dem Herrschaftszentrum in Pavia.

      Im Laufe der Auseinandersetzungen des 6. Jahrhunderts wurde, wie Herwig Wolfram formuliert, der Ostalpenraum von Italien getrennt. Im Westen sind ab Mitte des Jahrhunderts die politisch von den Frankenkönigen abhängigen Bayern nachweisbar, deren Herkunft unklar ist und die wohl verschiedene gentile Gruppen inklusive der verbleibenden romanischen Bevölkerung integrierten. Das führende bayerische Geschlecht der Agilolfinger (um 555 nennt die Historia Langobardorum als ersten Herzog Garibald) hatte enge verwandtschaftliche Beziehungen zu den Langobarden in Italien. Im Westen am Arlberg grenzte das bayerische Einflussgebiet an das der ebenfalls von den Franken abhängigen Alemannen. Im Osten berichtet die Langobarden-Geschichte des Paulus Diaconus für 592 von ersten Zusammenstößen der Bayern mit den Slawen im Drautal; für 595 und 610 mit den Awaren, zu denen die Grenze an der Enns verlief. Sie sind bereits 558 am byzantinischen Hof Kaiser Justinians I. († 565) fassbar und dominierten die Donauländer von ihrem Herrschaftszentrum im pannonischen Raum aus bis zum Beginn des 9. Jahrhunderts. Gemeinsam mit den Awaren sind an der unteren Donau slawische Verbände belegt, die ‒ wie die Bayern im Westen ‒ in diesem Raum die wichtigste und nachhaltigste Bevölkerungsgruppe darstellen. Im frühen 7. Jahrhundert sind ihre Siedlungen bis ins östliche Pustertal, ins nördliche Ennstal und an der Traun nachweisbar. In den 620er Jahren konnte der fränkische Kaufmann Samo das Machtvakuum zwischen Awaren und Bayern zur Etablierung einer ersten slawischen Herrschaftsbildung von Böhmen bis ins heutige Kärnten nutzen. Nach seinem Tod (um 660) setzten sich aber wieder die Awaren durch, um 700 stabilisierte sich die Grenze zu den Bayern an der Enns. Südlich der Alpen brachten die Bayern um 740 die karantanischen Slawen [<<90] in ihre Abhängigkeit. Hier entstand das Fürstentum Karantanien, später Kärnten.

      Heiligenleben

      Über diese Vorgänge gibt es ab dem späten 7. Jahrhundert wieder schriftliche Nachrichten aus der bayerischen Überlieferung. Abermals, und vielleicht noch deutlicher als an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert, zeigt sich, wie sehr Motive zur Errichtung und Durchsetzung politischer Herrschaft sowie Aneignung des Raumes und ihre ideelle Legitimation mit geistlich-missionarischen Bemühungen Hand in Hand gehen. Um 700 begannen die Missionstätigkeiten der unter den agilolfingischen Herzögen ins Land gekommenen Emmeram, Corbinian und Rupert. Alle drei wurden Gründer bzw. Patrone der 739 durch den Hl. Bonifatius in päpstlichem Auftrag eingerichteten neuen Bistümer Regensburg, Freising und Salzburg; das Wirken aller drei wurde jeweils zwei bis drei Generationen später in Heiligenviten gewürdigt und nach den genretypischen hagiographischen Mustern stilisiert. Zum späteren Metropolitanverband von Salzburg mit dem ersten Erzbischof Arn († 821), der erst 798 auf Initiative Karls des Großen etabliert wurde, der auch seine Südgrenze gegenüber dem Patriarchat Aquileia mit der Drau festlegte, gehörte außerdem das Bistum Passau.

      Die Passio Haimhrammi und die Vita Corbiniani verfasste wohl zwischen 768 und 772 Arbeo von Freising, der zunächst Schreiber in der bischöflichen Kanzlei und später selbst Bischof von Freising und Zeitgenosse des Salzburger Bischofs Virgil († 784) war. Die Gesta Hrodberti, die Lebensbeschreibung des Salzburger Gründungsbischofs, der von Worms nach Bayern gekommen war, lässt sich hingegen keinem Autor zuweisen, und auch ihre Überlieferungsgeschichte ist deutlich komplizierter. Die vielleicht 746/7 entstandene früheste Fassung ist nicht erhalten. Die ältere Überlieferung A (nach 791/3) und die jüngere Fassung B, die viel später (870) entstanden ist (→ s. u.), weichen in maßgeblichen Punkten voneinander ab und zeugen so von ihrer jeweils kontextbezogenen Intentionalität.

      Fränkische Quellen

      Alle drei Heiligenviten gehören zusammen mit der karolingischen