Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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(aus einem uralbanischen *tsarka- entlehnt), das im Rumänischen isoliert ist, zeigt sich auch, dass das albanische Wort eben nur im Albanischen gut versippt ist, wo auch das zu Grunde liegende Verbum thur „flechten“ belegt ist, von dem dieses Substantiv abgeleitet ist.

      Ein anderer Hinweis auf eine Herkunft der Albaner aus dem Inneren Südosteuropas ist ferner auch der Umstand, dass die historische Lautgeschichte einiger antiker, heute auf ausschließlich slawischem Sprachgebiet befindlicher Ortsnamen nicht mit slawischen Lautentwicklungen erklärbar ist, sondern vielmehr Lautentwicklungen vorliegen, die für das Albanische typisch sind. Ein solcher Fall ist z. B. Niš (aus antikem Naissus), dessen heutige Namensform (der Vokal i und das auslautende š) eben nicht mit slawischen Regeln erklärbar ist, [<<80] sehr wohl aber mit albanischen. Ist die Annahme einer Zuwanderung der Albaner aus sprachwissenschaftlicher Perspektive zwar überaus wahrscheinlich, so ist in der lebhaft geführten Diskussion nach wie vor die Frage ungelöst, woher ursprünglich und wann genau diese Zuwanderung erfolgt ist, d. h. ob noch in (nach)antiker Zeit oder erst im Frühmittelalter.

      Forschungsergebnisse und ihre politische Dimension

      Die Untersuchung der historischen Lautgeschichte der geographischen Namen Südosteuropas kann, wenn sie objektiv und frei von nationalistischen und anderen ideologischen Vorgaben oder Erwartungshaltungen durchgeführt wird, eine Reihe von recht gezielten Aussagen über schriftlose Perioden treffen. Auf berechtigte Fragen von Herkunft, früherer Siedlungsgeschichte und möglicher Migrationen können durchaus grundlegende Antworten gegeben werden. Die Daten der Linguistik zeigen, dass sich das wenige sprachliche Material der alten Balkansprachen Illyrisch und Thrakisch nicht mit den linguistischen Daten des Albanischen, im Speziellen mit den Daten des zeitgleichen, d. h. antiken Uralbanischen, in Übereinstimmung bringen lässt. So lässt sich sagen, dass das heutige Albanische die moderne Fortsetzung einer altbalkanischen Sprache darstellt, die einzige überhaupt, die unabhängig sowohl vom Illyrischen als auch vom Thrakischen ihren Weg in die Neuzeit gefunden hat, und deren Sprecher außerdem in ihr Siedlungsgebiet in Albanien erst zugewandert sein müssen. Allerdings, auch wenn erste Ansätze bereits unternommen wurden, so steht die wertfreie Untersuchung wie Auswertung solcher Befunde in großen Teilen noch aus; das geographische Namensmaterial ist sehr umfangreich und ein großer Teil der vorhandenen Literatur noch ideologiebeladen oder inzwischen methodisch stark veraltet, sodass in den meisten Fällen die Analyse erneut begonnen werden muss.

      Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft ist eine von ihrer Ausrichtung und Methodik her geeignete Disziplin für diese Aufgabe, die im Zusammenspiel und Dialog mit anderen linguistisch-philologischen Fachrichtungen (Klassische Philologie, Gräzistik, Slawistik, Romanistik, Byzantinistik) und der Geschichtswissenschaft die Untersuchung dieser Fragen in Angriff nehmen kann. Sie in absehbarer Zukunft zu beantworten, ist Aufgabe und Ziel von kontinuierlichen interdisziplinären Forschungsbemühungen. [<<81]

      2.3 Die Kirche als Trägerin frühmittelalterlicher Überlieferung

      2.3.1 Differenzierung und Integration durch Glauben

      Fallbeispiel: Die Vita St. Severini und der Abzug der romanischen Bevölkerung aus dem Donauraum

      Die vielen Leben des Heiligen Severin

      Wenige frühmittelalterliche Werke über den Betrachtungsraum wurden von der Geschichtsforschung und ihren Nachbardisziplinen (v. a. Archäologie, Philologie, Theologie) so eingehend behandelt wie die schmale Erinnerungs- oder Denkschrift (commemoratorium) des Eugippius über das Leben des Heiligen Severin, die als Vita Sancti Severini in die Forschungsgeschichte Eingang gefunden hat.

      Das liegt zunächst einmal maßgeblich an der Quellenlage: Bedingt durch den generellen Rückgang von Schriftlichkeit kommt den wenigen erhaltenen Texten umso mehr Bedeutung zu, besonders wenn es sich um narrative Darstellungen unmittelbar aus dem Betrachtungsraum selbst handelt. Den Text schrieb Eugippius zwar erst nach den wiedergegebenen Ereignissen im Jahr 511 im süditalienischen Kloster Castellum Lucullanum bei Neapel, das heißt etwa eine Generation nach dem Tod des Heiligen 482 in Favianis/Mautern an der Donau im heutigen Niederösterreich. Ob und wie genau er persönlich Severin gekannt hat, ist nicht restlos geklärt. Jedenfalls aber war er Zeuge der maßgeblichen Entwicklungen, denn 488 wurde die von Severin gegründete geistliche Gemeinschaft, der Eugippius angehörte und später vorstand, im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen dem Skiren Odoaker, der 476 den letzten weströmischen Kaiser abgesetzt hatte, und den pannonischen Goten unter Mitnahme der sterblichen Überreste des Heiligen nach Italien evakuiert.

      Schriftlichkeit und Mündlichkeit

      Die dazwischen liegenden drei Jahrzehnte, ebenso wie der etwa gleiche Zeitraum zuvor, in dem Severin in den provinzialrömischen Siedlungen an der mittleren Donau wirkte, sind gekennzeichnet von Entwicklungen, die einen Abschnitt der sogenannten „Völkerwanderung“ mit besonders nachhaltigen Konsequenzen gerade auch für die schriftliche Überlieferung markieren. [<<82]

      Zu der Zeit, als der Hunnenkönig Attila starb, herrschten in beiden Teilen Pannoniens und den übrigen an die Donau grenzenden Gebieten unsichere Verhältnisse. […] Damals nun kam der hochheilige Diener Gottes Severinus aus dem Osten in das Grenzgebiet zwischen Ufer-Noricum und Pannonien und hielt sich in einer kleinen Stadt auf, die Asturis heißt. Er lebte nach der Lehre des Evangeliums und der Apostel in aller Frömmigkeit und Sittenreinheit und erfüllte im Bekenntnis des katholischen Glaubens sein ehrwürdiges Gelübde durch heiligmäßige Werke. (c. 1,1)

      Eugippius, Vita Sancti Severini. Das Leben des heiligen Severin (lt./dt.), übers. und hrsg. von Theodor Nüsslein (Stuttgart 1999).

      Die Schrift bietet die einzige umfassende narrative Darstellung zur Veränderung der Sozial- und Siedlungsstrukturen im ersten Jahrhundert der Transformation des Römischen Reichs in seinen Provinzen Rätien, Noricum und Pannonien im Donauraum auf der Basis von vielfach „vor Ort“ gewonnenen und mündlich weitergegebenen Informationen. Auch für viele der politischen und militärischen Ereignisse ist der Text die einzige Quelle. Dementsprechend wurde er lange Zeit besonders auf seine detaillierten chronologischen, topographischen und prosopographischen Daten hin ausgewertet.

      Ein hagiographischer Text

      Die besondere Glaubwürdigkeit des Eugippius wurde nicht zuletzt deshalb angenommen, weil der Text nicht im üblichen rhetorisch stilisierten Ton, sondern einfach geschrieben ist ‒ ein Umstand, den der Autor mit entsprechendem Bescheidenheitsgestus in seinem dem Text vorangestellten Brief an den einflussreichen römischen Diakon Paschasius explizit betont. Was aber, wenn es sich gerade dabei um einen bewusst gesetzten „Wahrheitseffekt“ handelt? Denn selbstverständlich ist die „Denkschrift“ des Eugippius vor allem ein hagiographischer Text: Sein Ziel ist die Darstellung eines exemplarischen Heiligenlebens in der damals bereits etablierten Tradition dieses literarischen Genres, in dem biblische, patristische und hagiographische Modelle je nach Kontext adaptiert werden konnten. Er repräsentiert also jedenfalls spezifische Formen der Stilisierung eines vorbildlichen Heiligen, die ihrerseits sowohl in der Welt seines Autors Eugippius und seines Publikums im erst seit Kurzem ostgotischen Italien des frühen 6. Jahrhunderts verortet sind und auf zeitgenössische geistliche Debatten und (kirchen-)politische Parteiungen reagieren, wie sie [<<83] auch die Welt Severins, des Protagonisten der Geschichte der letzten Jahrzehnte der römischen Donauprovinzen, kommentieren. Diese Ebenen hagiographischer und gleichzeitig politischer Stilisierung verbinden komplexe Wechselbezüge, die bei der Lektüre mitbedacht werden müssen.

      Neue gentes an der Donau

      Doch zurück an den Schauplatz der Erzählung: Attila starb 453, und nur wenig später (454/5) fand sein riesiges Reich mit Schwerpunkt im Karpatenbecken in der Schlacht am Nedao (vielleicht ein Nebenfluss der Save) ein Ende. Alle an den kriegerischen Auseinandersetzungen beteiligten Gruppen ‒ Goten und Gepiden, Rugier und Eruler, Sueben, Skiren und Sarmaten ‒ wurden in ihren teilweise „neuen“ Gebieten im Osten der Donauprovinzen nominell als römische Föderaten angesiedelt: In dieser vertraglichen Form regelten die Römer seit ihrer entscheidenden Niederlage gegen ein hunnisch-gotisches Heer bei Adrianopel (378) ihr Verhältnis zu den nicht dem populus Romanus angehörigen