Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Kontext und Zugänglichkeit der jeweiligen Inschrift variierte, bewirkte einen dauernden Dialog zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Inschriften entwickelten sich somit in der Kaiserzeit zum Medium par excellence für politisch-gesellschaftliche Diskurse zu Themen wie Herrschaftslegitimation, Definition und Hierarchisierung sozialer Gruppen, Funktion und Selbstrepräsentation der Eliten, Erinnerungskultur und Identität.

      Formen privater Schriftlichkeit

      Neben dieser „monumentalen“, auf eine möglichst breite und nachhaltige Interaktion abzielenden Form von Schriftlichkeit bestand eine weitere, die den Zwecken der Verwaltung, des Rechts- und Geschäftslebens und der häuslich-privaten Sphäre gewidmet war und sich vergänglicher Beschreibstoffe wie Papyrus und Holztäfelchen und damit auch kursiver Schriften bediente. [<<65]

      Überlieferungschancen

      Die erhaltenen und von der Forschung erschlossenen Reste dieser beiden Bereiche von Schriftlichkeit bieten uns kein genaues Abbild der ursprünglichen Verhältnisse, da die Materialien, die in der Antike als Schriftträger dienten, in sehr unterschiedlichem Maße der natürlichen Zersetzung oder mutwilligen Zerstörung ausgesetzt waren, so etwa organische Stoffe wie Papyrus und Holz durch Verrottung, Metall durch Einschmelzen oder Marmor durch Kalkbrennerei. Verzerrt ist das Bild auch durch solche Faktoren wie die höchst unterschiedliche Intensität einerseits späterer Überbauung und andererseits der archäologischen Erforschung antiker Siedlungen. Dennoch eröffnen Inschriften als authentische Primärzeugnisse tiefe Einblicke in die antike Lebenswelt, und dabei vor allem in solche Bereiche, über die uns die übrigen Quellen kaum oder gar keine Auskunft geben. In der Gesamtschau betrachtet, d. h. nach Zusammenführung und Vergleich aller Einzeldaten, lassen sich aus den Inschriften grundlegende Erkenntnisse gewinnen, und nicht nur ihre Zahl, sondern auch ihre Bedeutung für die Erforschung der römischen Kaiserzeit nimmt von Jahr zu Jahr stetig zu.

      Die Blütezeit der monumentalen Inschriftenkultur Roms lag in den Provinzen des lateinischen Westens zwischen dem späten 1. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Um die Mitte des 3. Jahrhunderts setzt allerdings ein dramatischer Wandel ein, als dessen primäre Ursache die allgemeine Reichskrise gelten darf. Zahlenmäßig ist ein extremer Schwund zu verzeichnen, und qualitativ sticht die geringe Sorgfalt in der Ausführung der epigraphischen Monumente ins Auge. Das Schriftbild erscheint nachlässig, und oftmals greift man nunmehr auf ältere Steinblöcke oder -platten zurück, um diese einer Zweitverwendung zuzuführen, wobei die Erstbeschriftung getilgt oder der neue Text auf der Rückseite des Monuments angebracht wird.

      Forschungsgeschichte

      In der älteren Forschung ist der Einschnitt des 3. Jahrhunderts als Symptom des allgemeinen Niedergangs und Verfalls des Reichs betrachtet worden. Spätantike Inschriften wurden daher lange Zeit nur insofern gewürdigt, als sie den Prozess der Christianisierung beleuchten, und aus dieser Haltung heraus entstand bereits im 19. Jahrhundert die „Christliche Epigraphik“ als eigenständige Disziplin. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bewertung des mit Diokletian (284–305) und Konstantin (306–337) beginnenden post-tetrarchischen Zeitalters allerdings deutlich gewandelt. Die Spätantike wird nicht [<<66] mehr als Verfallszeit oder Übergangsphase, sondern als selbständige Epoche mit eigenen Leistungen und eigener Bedeutung gewürdigt. Dies hat zur Folge, dass mittlerweile auch die epigraphische Kultur der Spätantike als „drittes Zeitalter“ der lateinischen Epigraphik eingestuft wird. Besonders die letzten zehn Jahre haben eine enorme Zunahme an derartigen Forschungen gesehen. Diese Entwicklung bringt es mit sich, dass die traditionelle Scheidung von Inschriften aus nach-konstantinischer Zeit in christliche und nicht-christliche nicht mehr als sinnvoll gilt, da sich eine solche Trennlinie nicht scharf ziehen lässt und überdies moderner Perspektive entspringt.

      In der neuesten Forschung gilt als anerkannt, dass nach dem vorübergehenden Einbruch des 3. Jahrhunderts seit dem Beginn des Zeitalters der Tetrarchen („Vierherrscher“, d. h. die beiden Augusti und die beiden Caesares nach dem von Kaiser Diokletian eingeführten Herrschaftssystem) eine neue Blüte der Inschriftenkultur zu beobachten ist, die das gesamte 4. Jahrhundert hindurch anhielt und in weiten Teilen des lateinischen Westens erst im Laufe des 5. Jahrhunderts zum Erliegen kam. Von diesem Niedergang blieben nur einzelne Regionen Italiens und vor allem die Stadt Rom ausgenommen – wo die Tradition sich zumindest in rudimentärer Form sogar bis ins frühe 7. Jahrhundert hielt, wie die Phokás-Säule auf dem Forum zeigt –, ebenso wie der Osten des Reichs, der unter Anastásios I. (491–518) und Justinian I. (527–565) nochmals einen markanten Aufschwung der epigraphischen Kultur erlebte, und zwar besonders im Hinblick auf die Publikation kaiserlicher Gesetze.

      Spätantike Epigraphik des Donau-Balkan-Raumes

      Die epigraphische Kultur der Spätantike beinhaltet alle vier Hauptgattungen, die auch schon in den früheren Jahrhunderten maßgeblich gewesen waren: Ehren-, Bau-, Weih- und Grabinschriften. Es sind aber bedeutsame Akzentverschiebungen zu verzeichnen: Zunächst nimmt der relative Anteil der Grabinschriften stark zu, einerseits weil die Christen dieses Medium für die eigene Identitätsbildung besonders nutzten, andererseits weil die übrigen Gattungen in der Bedeutung deutlich an Bedeutung verloren. Zugleich verlagert sich der Schwerpunkt epigraphischer Repräsentation von der „politischen“ in die kirchliche Sphäre; munizipaler Euergetismus, d. h. Schenkungen und Stiftungen an Stadtgemeinden durch die örtliche Oberschicht, wird jetzt nicht mehr auf dem Forum, sondern in Sakralbauten durch [<<67] Stifterinschriften (bevorzugt in Gestalt von Mosaiken) zum Ausdruck gebracht. Die Selbstdarstellung der Reichs- und lokalen Eliten in ihrer politischen Funktion reduziert sich mehr und mehr auf die Metropolen. Drittens gewinnt das Genre der Versinschrift an Bedeutung, sowohl für Ehrungen als auch für Epitaphe.

      Der Donau-Balkan-Raum folgt dieser allgemeinen Entwicklung des Westens. Selbst die oben angesprochenen unterschiedlichen Entwicklungsrhythmen lassen sich hier nachweisen: Während in den Provinzen entlang der Donau die Inschriften mit der Wende zum 5. Jahrhundert quasi schlagartig verschwinden, lebt die epigraphische Kultur in den beiden Zonen, die einerseits an Italien und andererseits an den oströmischen Reichsteil angrenzen, noch mindestens bis ins frühe 7. Jahrhundert fort – zweifellos aufgrund der Impulse, die von Rom und Konstantinopel, aber auch von direkt benachbarten Landschaften wie Oberitalien oder Makedonien ausgehen, alles Gebiete mit ungebrochen aktiver epigraphischer Kultur. Dies ist auch der Grund, warum das dalmatinische Küstenland mit Städten wie Salona oder die westpontische Küste (Pontos = Schwarze Meer) mit Tomis/Constanţa, (heute Rumänien) bzw. das thrakische Binnenland südlich des Haemus (Balkangebirge) mit Philippopolis/Plovdiv und Augusta Traiana/Stara Zagora zu den Orten zählen, die in der Spätantike die vergleichsweise reichste und am längsten anhaltende epigraphische Dokumentation liefern, und zwar nicht nur auf Latein, sondern auch auf Griechisch, das in Thrakien und im westpontischen Bereich ohnehin tief verwurzelt war, aber in Dalmatien ebenfalls an Bedeutung gewann.

      Die spätantiken Inschriften des Donau-Balkan-Raumes, also von Noricum, Pannonien, Dalmatien, Epirus, Moesien, dem südlich der Donau gelegen Dakien und Thrakien, in lateinischer Sprache sind erstmals im Rahmen der Erstellung des Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) zusammen mit dem übrigen antiken Material von Theodor Mommsen (1817–1903) zusammengestellt worden; manches hiervon gelangte in die Auswahlsammlung von Hermann Dessau (1856–1931) (ILS). Hingegen haben die Inscriptiones Graecae (IG), das griechische Pendant zum CIL, den thrakisch-pontischen Raum bis heute nicht erreicht. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das CIL für fast alle Regionen durch nationale Corpora ersetzt worden, die erstmals auch die [<<68] griechischen Zeugnisse systematisch erschließen (IGBulg, ILBulg, ILJ, IMS, IScM, LIA, RIU etc.). Spezielle Sammlungen, die sich auf die spätantike bzw. frühchristliche Evidenz beschränken, liegen für Bulgarien, Nord-Kroatien, Ungarn und Rumänien vor (Beševliev, Migotti, Gáspár, Barnea und Popescu); daneben existieren lokale Kollektionen (z. B. Asdracha, Salona IV). Weiters ist auf die den gesamten Reichswesten umspannende Sammlung von Ernst Diehl zu verweisen (ILCV). Die Versinschriften werden derzeit neu bearbeitet (CLEMoes, CLEPann und CLEThr), ebenso die Meilensteine (CIL XVII).

      Zur Auflösung der im folgenden verwendeten Siglen von Inschrifteneditionen wie CIL etc.: http://db.edcs.eu/epigr/hinweise/abkuerz.html, Zugriff: 21. 12. 2016

      Epigraphische