Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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und die [<<72] man zumeist ebenfalls zu den Thrakern zählt, kam seit dem 1. vorchristlichen Jahrhundert der gesonderte Begriff Daker auf. Die Sprache der im nördlichen Griechenland (d. h. nördlich von Thessalien) siedelnden Makedonen wird von der Sprachwissenschaft im Gegensatz zu früher heute nicht mehr als eigene Sprache, sondern vielmehr als nordwestgriechisch-dorischer Dialekt angesehen, der wie die übrigen altgriechischen Dialekte auch (abgesehen vom Überbleibsel des Tsakonischen auf der Peloponnes) zu Gunsten der hellenistischen Koiné aufgegeben wurde. Darüber hinaus siedelte auch im Inneren Südosteuropas eine Vielzahl von Stämmen, deren Einordnung allerdings nicht immer zu sichern ist.

      Spärliche Belege der altbalkanischen Sprachen

      Alle antiken lokalen Sprachen Südosteuropas können schließlich mit dem Begriff altbalkanische (bzw. paläobalkanische) Sprachen benannt werden. Ihre Beleglage ist marginal; es gibt nur eine Handvoll längerer thrakischer Inschriften, die sich – obgleich in griechischem Alphabet geschrieben – dennoch bis heute einer allgemein anerkannten Interpretation entziehen. Keine Inschriften hinterlassen haben die Daker (wie auch die Illyrer sowie alle übrigen altbalkanischen Stämme). Die Interpretation des altbalkanischen Sprachmaterials muss sich, da keine Textdenkmäler zur Verfügung stehen, daher auf andere Zeugnisse stützen. Hierzu gehören neben den bei antiken Autoren verzeichneten Glossenwörtern (d. h. Erklärungen fremder Wörter), deren Interpretation jedoch nicht immer zweifelsfrei ist, vor allem die zahlreich überlieferten Orts- und Personennamen, die den altbalkanischen Sprachen zuzuschreiben sind. Auf Grundlage dieser Namensbelege muss schließlich versucht werden, zumindest die Grundzüge der Lautsysteme dieser Sprachen zu ermitteln, da der Einblick in ihre Grammatik verwehrt bleibt, die bei Untersuchungen zum Sprachvergleich letzten Endes von ausschlaggebendem Wert ist.

      Das genaue Schicksal der lokalen Sprachen im Gefolge der Ausbreitung des Lateinischen ist nur schwer zu bestimmen, gemeinsam ist ihnen allen aber, dass sie ausgestorben sind, bzw. präziser gesagt, zu Gunsten des Lateinischen allmählich aufgegeben wurden (abgesehen vom Griechischen und der Ausnahme des Albanischen; dazu im Folgenden). Dieser Vorgang war gewiss nicht einheitlich, sondern verlief örtlich und zeitlich unterschiedlich. Am schnellsten fasste das Lateinische in urbanen Siedlungen, erschlossenen Ebenen sowie [<<73] entlang der Verkehrswege Fuß, während damit gerechnet werden muss, dass lokale Sprachen in den Höhenlagen zunächst eine gewisse Zeit lang noch weiter gesprochen wurden.

      Die sprachliche Neuformierung des Balkans

      Nachdem für den Ausgang der Antike anzunehmen ist, dass ein weitreichender Teil Südosteuropas (von Griechenland und griechisch geprägten Siedlungen abgesehen) zur lateinischen Sprache übergewechselt ist, hat die Ankunft der slawischen Verbände, die zunächst die Ebenen in Besitz genommen haben, dazu geführt, dass die lateinische Sprachlichkeit erschüttert wurde.

      Das Lateinische findet sich in der Folge einerseits noch in den urbanen Bereichen an der Adriaküste. Denn in den Städten an der Adria (so z. B. in Dubrovnik/Ragusa) entwickelte sich – im Unterschied zum slawischen Hinterland – aus dem Latein jene romanische Sprachform, die Dalmatisch genannt wird, jedoch im Spätmittelalter unter dem Druck des Venezianischen und des Slawischen ausgestorben ist (ein letzter Rest hielt sich jedoch noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf der Insel Krk/Veglia).

      Aus dem Latein jener Sprecher wieder, von denen angenommen werden kann, dass sie sich in die Höhenlagen zurückgezogen hatten, wofür das rumänische Lexikon Hinweise gerade im Bereich der Hirtenterminologie liefert, entwickelte sich andererseits das Urrumänische. Von diesem leiten sich die modernen erhaltenen ostromanischen Sprachen her: das norddanubische (Dako)rumänische und die kleinen süddanubischen Sprachen Aromunisch (in Albanien, Mazedonien und Griechenland), Meglenorumänisch (in Griechenland) sowie Istrorumänisch (auf Istrien). Aus dem Slawischen schließlich, das bei Ankunft seiner Sprecher, wie die Daten der historischen slawischen Linguistik nahelegen, noch einheitlich war, entstanden im Verlauf der Zeit durch Differenzierungsprozesse die heute in Südosteuropa gesprochenen südslawischen Sprachen. Den modernen Fortsetzern der hellenistischen Koiné (Neugriechisch), des Lateinischen (Rumänisch sowie die anderen Kleinsprachen) und des Slawischen (Bulgarisch, Mazedonisch, Serbisch-Kroatisch, Slowenisch) ist gemein, dass ihre Sprachgeschichte auf Grund der Tatsache, dass ihre Vorstufen gut bezeugt und auch reichlich Textdokumente vorhanden sind, recht gut nachverfolgt werden kann, ihre Herkunft und Entwicklung ist daher kein besonderes Forschungsproblem. [<<74]

      Das Beispiel des Albanischen

      Anders stellt sich die Lage beim Albanischen dar, das die Forschung schon bald als eine eigenständige indogermanische Sprache identifiziert hat. Seine Dokumentation setzt nämlich von Namens- und Einzelwortbelegen sowie in spätmittelalterlichen lateinischen und griechischen Handschriften überlieferten kleinen Sätzchen abgesehen erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts ein (1555 mit dem Seelsorgehandbuch des katholischen Priesters Gjon Buzuku). Die albanische Sprachgeschichte vor diesem Zeitpunkt kann mangels schriftlicher Zeugnisse daher nur auf dem Weg des Sprachvergleichs und der sogenannten internen Rekonstruktion erschlossen werden. Dies wird im Folgenden näher erläutert. Hier bewährt sich die Tatsache, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft als eine seit langer Zeit erprobte linguistische Disziplin, die ihre Methodik im Zusammenspiel mit anderen linguistischen Forschungsrichtungen kontinuierlich verfeinert, über die nötigen Instrumentarien dazu verfügt. So konnte aus dem Sprachvergleich der indogermanischen Einzelsprachen das lautliche und grammatische System des Urindogermanischen rekonstruiert werden, d. h. jene rekonstruierte Sprachform, die auch als Ursprung des Albanischen vorauszusetzen ist.

      Darüber hinaus wurde aus Sprachen mit langer schriftlicher Überlieferungsgeschichte die Methode der internen Rekonstruktion entwickelt, mit deren Hilfe es möglich ist, innerhalb einer Sprache historische sprachinterne Veränderungen in der Laut- und Formenlehre nachzuvollziehen. Der Sprachvergleich und besonders die interne Rekonstruktion ermöglichen es, die schriftlose Sprachgeschichte von erst spät belegten Sprachen wie dem Albanischen sehr zuverlässig zu ermitteln. Zum Tragen kommt hierbei das empirische Prinzip der relativen Chronologie, das besagt, dass auch wenn der exakte Zeitpunkt z. B. eines Lautwandels nicht datiert werden kann, so doch die zeitliche Abfolge der einzelnen lautlichen Wandel innerhalb einer Sprache bestimmbar ist, womit erkennbar wird, wo es sich um einen früheren und wo um einen späteren Wandel handelt.

      Illyrisch und Albanisch

      Da das Albanische heute auf jenem Territorium gesprochen wird, das in der Antike von illyrischen Stämmen besiedelt wurde, wurde a priori angenommen, dass es sich beim Albanischen um eine kontinuierliche moderne Fortsetzung des Illyrischen handeln muss. Die Befürworter dieser Herleitung, die sich in albanischen Handbüchern [<<75] trotz schwerwiegender Kritikpunkte gleichsam konkurrenzlos durchgesetzt hat, führen zur Bekräftigung neben archäologischen gerade auch sprachwissenschaftliche Argumente an. Sie sollen im Folgenden zur Erläuterung der methodischen Analyseweisen skizziert und kritisch überprüft werden.

      Lautgesetze als Schlüssel zur altbalkanischen Geschichte

      Da das antike Illyrische nicht in Textzeugnissen überliefert und das Albanische erst neuzeitlich belegt ist, ergeben sich bei einem Vergleich dieser beiden Größen zwei Schwierigkeiten: zum einen eine zeitliche Distanz von ca. 1500 Jahren und zum anderen eine Ungleichmäßigkeit der jeweiligen Beleglage. Da die für einen Sprachvergleich primär aussagekräftige Komponente der Grammatik für das Illyrische völlig fehlt, müssen sich alle Hypothesen bei einem Vergleich des Albanischen mit dem Illyrischen auf einen Abgleich der Lautsysteme dieser beiden Sprachen stützen. Dies unternehmen auch die Vertreter einer Abstammung des Albanischen vom Illyrischen, indem sie postulieren, dass die auf dem Territorium Albaniens bezeugten antiken illyrischen Ortsnamen nach typisch albanischen Lautentwicklungen zu den modernen Formen weiterentwickelt worden sind (eine weitreichende Folge dieser Hypothese ist dann auch die Annahme einer Autochthonie (Alteingesessenheit) der Albaner auf ihrem Siedlungsgebiet). So wird z. B. auf eine albanische Lautentwicklung beim Namen der antiken Stadt Scodra (einem der Hauptorte der Illyrer) hingewiesen: Die albanische Form des Ortsnamens Shkodra zeige als Fortsetzer der antiken Namensform, dass deren Lautverbindung sk als shk erscheint, was so nur im Albanischen möglich ist – im Gegensatz etwa zur slawischen Namensform Skadar.

      Nun handelt es sich bei der