Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Akteure in das politische Geschehen erst deutlich später und zögerlich ein. Federführend war auch hier die zeithistorische Forschung.

      Für die österreichische Mediävistik und ihre spezifische Ausprägung am Institut für österreichische Geschichtsforschung ist dieser Prozess nach wie vor nicht abgeschlossen: Das von Karel Hruza herausgegebene mehrbändige Handbuch Österreichische Historiker (1900–1945) (Bde. 1 und 2, Wien 2008 und 2012) zeigt, in welchen unterschiedlichen Formen gerade auch scheinbar unpolitische, methodisch-„positivistische“ historische Hilfswissenschaften und Quellenforschungen ihren wesentlichen Anteil an der Schaffung und Verfestigung von Geschichtsbildern haben können.

      Die Aufarbeitung der komplexen Geschichte der deutsch-böhmischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert und ihrer Beziehungen zur tschechischen Historiographie vor dem Hintergrund der mehrfach gebrochenen Geschichte der böhmischen Länder und der Slowakei im Kontext der politischen Entwicklung des östlichen Mitteleuropa macht sich das 1956 gegründete Collegium Carolinum in München zur Aufgabe. Als wissenschaftliche Gesellschaft, die unterschiedliche Fachdisziplinen und ihre Vertreterinnen und Vertreter aus einer Vielzahl europäischer Länder zusammenbringt, widmet sie sich besonders der vergleichenden Forschung. So wurden etwa in mehreren besonders seit 2000 durchgeführten Tagungen für die Zeit nach 1945 eine Reihe der hier angesprochenen Fragen systematisch diskutiert und publiziert. Eine vergleichbare Plattform für den internationalen Austausch hat sich mit dem Collegium Hungaricum in Wien etabliert. [<<49]

      In der Südosteuropäischen Geschichte setzte eine Münchner Tagung im Jahre 2002 wichtige Akzente, die freilich kaum der umfangmäßig bescheidenen deutschsprachigen mediävistischen Forschung zum Balkanraum galten. Gegenwärtig setzt sich auch die deutsche Südosteuropa-Gesellschaft kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinander. In Südosteuropa selbst ist es in der Mittelalterforschung am ehesten die bulgarische Osmanistik, die ihre Rolle bei der Rechtfertigung der nationalistischen Repression gegen die türkische Minderheit in der Spätphase (Mitte der 1980er Jahre) der kommunistischen Diktatur Todor Živkovs hinterfragt.

      Deutlich geringer ist eine öffentliche Debatte in der serbischen Mediävistik, die teilweise immer noch nationalistische Positionen vertritt, etwa die selbstverständliche Eingliederung ganz Bosniens und der Herzegowina in eine mittelalterliche serbische Geschichte. Stark von Nationalismus gekennzeichnet ist auch die personell kleine albanische Mittelalterforschung. In Griechenland besteht die Tendenz, Byzanz als griechischen Staat, und nicht als Vielvölkerreich wahrzunehmen. Historiographiekritische Ansätze in Südosteuropa sind überwiegend auf die Neuzeitforschung bezogen und behandeln das Mittelalter eher am Rande. Den kritischsten Umgang mit dem Mittelalter pflegen im regionalen Vergleich rumänische Historiker.

      Hingegen hat sich in Ungarn das Collegium Budapest in den vergangenen beiden Jahrzehnten in einer Reihe von Workshops und daraus resultierenden internationalen Publikationen die systematische vergleichende Erforschung der Bedeutung mittelalterlicher Geschichte und der Methoden zu ihrer Erforschung für die Konstruktion vergangener wie gegenwärtiger nationaler Mythen zur Aufgabe gemacht. Die Untersuchung verschiedener historischer und kultureller Visionen der Vergangenheit dient als Ausgangspunkt für eine histoire croisée (Bénedicte Zimmermann, Michael Werner), eine Geschichte der Verflechtungen unterschiedlicher Gründungsnarrative. Ähnlich wie bei anderen aktuellen europäischen Forschungsprojekten, z. B. in Wien, Bergen, den Niederlanden bzw. jenen der European Science Foundation wird dabei die Untersuchung der einzelnen Fächer der humanities von den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts bis zu den Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart in ihren Interaktionen in Politik und Wissenschaft fokussiert. [<<50]

      Dabei werden die tiefgreifenden Auswirkungen der Mittelalterforschung und ihrer überlieferungsgeschichtlichen Grundlagen gerade dort deutlich, wo ihre populären Aneignungen nachhaltig erfolgreich waren. Andererseits wurden bereits im 18. und 19. Jahrhundert eine Reihe spezifisch nationaler Mythen durch Vertreter einer Länder und Fächer übergreifenden intellectual community aufgedeckt, deren gemeinsames Methodenverständnis in jahrzehntelangen Prozessen des Verhandelns von Gegenständen und der Praxis der Forschung zu historischer Überlieferung etabliert wurde.

      Patrick J. Geary, Gábor Klaniczay, (Hg.), Manufacturing The Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-Century Europe (Leiden, Boston 2013). [<<51]

      2

      2.1 Überblick über die politischen Veränderungen 500–900

      Das antike Erbe

      Nimmt man die Jahre 500 und 900 als Ausgangspunkte für einen Vergleich der Herrschaftsbildungen im Donau-Balkanraum, werden tiefgreifende politische und sprachlich-ethnische Veränderungen deutlich. Um 500 hielt das Römische Imperium, seit 395 in einen West- und einen Ostteil gegliedert, noch die Donaugrenze. Damit lagen weite Teile unseres Betrachtungsraumes innerhalb des Imperiums. Gerade der Balkanraum diente seit dem 3. Jahrhundert als Rekrutierungsgebiet der römischen Heere. Bedeutende Kaiser der ausgehenden Antike von Diokletian über Konstantin den Großen bis zu Justinian I. stammten aus den römischen Balkanprovinzen. Während die Küstenlandschaften – ebenso wie jene an der mittleren Donau – von einem dichten Städtenetz überzogen waren, gestaltete sich die Urbanisierung im Inneren der Balkanhalbinsel bescheidener. Dennoch bestand auch dort die griechisch-römische Reichskultur, die imperiale Verwaltung. Zudem bildete sich in der Spätantike eng an die Orte der staatlichen Verwaltung gebunden ein System von Bischofssitzen heraus. Die Bevölkerung setzte sich aus Griechen und anderen altbalkanischen Sprachgruppen (Illyrern, Thrakern, Dakern u. a.) zusammen, deren Sprachen aber kaum verschriftlicht wurden, da das Griechische im Süden, das Lateinische im Zentrum und Norden des römischen Donau-Balkanraumes als Schriftsprache verwendet wurden. Wichtige Teile der altbalkanischen Bevölkerung im Einflussbereich der lateinischen Verwaltungssprache waren, ähnlich wie in Gallien oder Spanien, romanisiert worden. Wie auf der iberischen Halbinsel die Basken oder in der Bretagne die Kelten waren aber in gebirgigen Gebieten des westlichen Balkans die sprachlichen „Vorfahren“ der heutigen Albaner von der Romanisierung nur am Rande erfasst worden.

      Byzantinische Einflüsse

      400 Jahre später hatte sich unser Betrachtungsraum von einem militärisch-administrativen, wenn auch – mit Ausnahme der Küste [<<52] Seitenzahl der gedruckten Ausgabe ngebiete – nicht wirtschaftlichen oder kulturellen Kerngebiet des Römischen Imperiums in einen Zwischenraum zwischen den Nachfolgern des römischen Reichsgedankens verwandelt. Im Osten betonte das Byzantinische Reich die ungebrochene Kontinuität des römischen Kaisertums; im Westen hatte Karl der Große durch die Kaiserkrönung im Jahre 800 die Tradition des westlichen Kaisertums wiederbelebt und danach dessen Anerkennung durch Byzanz erzwungen. Dieses westliche Kaisertum war um 900 aber stark geschwächt. Byzanz hatte im 7. Jahrhundert die Kontrolle über den Balkan bis auf wenige Küstenplätze verloren. Um 900 hatte es die Küsten von Ägäis und der östlichen und südwestlichen Adria wieder unter seine Herrschaft gebracht und war dabei, sich mit einer groß angelegten Christianisierungsstrategie den Balkan wieder zu erschließen.

      Awaren und Bulgaren

      Archäologische Befunde und solche der Ortsnamenforschung sowie deutlich spätere schriftliche Quellen legen nahe, dass im Gefolge der Awaren, die gemeinsam mit den iranischen Sassaniden 626 Konstantinopel belagert hatten, in einem langwierigen Prozess slawische Gruppen bis an die Adria und die Spitze der Peloponnes vorgedrungen waren. Wichtige Teile der provinzialrömischen Bevölkerung waren an die Küsten oder in gebirgige Rückzugszonen geflohen. Slawen gründeten vom Alpenbogen bis nach Südgriechenland neue Siedlungen. Römische Städte wurden oftmals geplündert und zerstört; Staats- und Kirchenverwaltung brachen zusammen. Nicht die Awaren, sondern eine andere aus den eurasiatischen Steppenzonen zuwandernde Kriegergemeinschaft, die von der Forschung so bezeichneten „Proto-Bulgaren“, füllten das politische Vakuum an der unteren Donau dauerhaft auf. Verwendet wird der Begriff „Proto-Bulgaren“, um die nichtslawische namengebende Gruppe der mittelalterlichen Bulgaren von slawischen Bevölkerungsgruppen abzugrenzen. Die Frühgeschichte der Bulgaren ist quellenmäßig so schlecht belegt, gleichzeitig aber von so starken Forschungshypothesen überformt, dass die moderne Forschung kaum gesicherte Aussagen