Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Spätantike Karten: Die Tabula Peutingeriana

      Imperiale Herrschaftsansprüche

      Das mittelalterliche Straßennetz Mittel- und Südeuropas basiert in seinen Grundzügen auf den seit der Spätantike bestehenden Verkehrswegen. Straßen als Verbindungslinien zwischen einem Ausgangspunkt und einem Ziel beschreiben die lineare Wahrnehmung eines Raumes. Meilensteine mit Entfernungsangaben sind wichtige Bestandteile des spätantiken Systems der Verkehrserschließung. Beides kann auch als Ausdruck der imperialen Herrschaftsansprüche des Römischen Reichs in seinen Provinzen verstanden werden. Beredtes Beispiel dafür sind fünf erhaltene Kalksteintafeln aus Spalato/Split, deren Inschriften die Gliederung der neuen Provinz Dalmatien in fünf von Salona/Solin ausgehenden Hauptrouten darstellen. Die Tafeln dokumentieren die Strukturierung der Provinz durch die neu angelegten und vermessenen Straßen: nach Norden ad fines provinciae Illyrici in Richtung Servitium/Bosanska Gradiška, nach Andetrium/Gornji Muć, nach Castellum [<<61] Hedum/Podgora bei Breza, zum Fluss Batinus/Bosna und zur Passhöhe Ulcirus (bei Strumica).

      Ähnliche Funktion haben auch die spätantiken Routenverzeichnisse, die Itinerarien, wie etwa das Itinerarium Antonini. Es ist zugleich die inhaltliche Basis des einzigen, in einer mittelalterlichen Kopie des 12. bzw. frühen 13. Jahrhunderts überlieferten Exemplars einer spätrömischen Straßenkarte, der Tabula Peutingeriana (Abb 2). Auf 11 Pergamentblättern in Form eines Pergamentstreifens mit einem Gesamtmaß von 34 × 674,5 cm, der ursprünglich wohl als Rotulus – als Schriftrolle – konzipiert war, werden die großen Straßenverbindungen des Römischen Reichs dargestellt. Die graphische Übersicht gibt nicht nur einen Einblick in die Verkehrssituation zwischen Adria und Donau, sondern des gesamten Raumes vom Atlantik bis nach Indien.

      Mit unterschiedlichen Hilfsmitteln wie Farben und Piktogrammen (Vignetten) werden Straßenverläufe, Städtenamen, Wegstationen und landschaftliche Gegebenheiten dargestellt und vermitteln den Eindruck eines weit verzweigten und gut organisierten Verkehrssystems. Zudem sind Entfernungsangaben in römischen Meilen bzw. keltischer Leuga (Gallien) ausgewiesen. Die etwa 4000 eingezeichneten Ortsangaben erfahren durch unterschiedliche Vignetten eine inhaltliche Differenzierung: Sie verweisen auf römische Villen mit Beherbergungspflicht, die oft zusätzlich mit Thermen, Tempeln oder Altären ausgestattet waren. Vignetten für Hafenanlagen und Leuchttürme sowie Straßentunnel zeichnen spezielle Routensituationen aus. Besonders auffällig sind die Städte Rom, Konstantinopel und Antiochia markiert. Die Darstellungen von allegorischen Personifikationen der Stadt oder der jeweiligen Stadtgottheit bringen den hohen Stellenwert der drei Städte in der Vorstellungswelt des Römischen Imperiums zum Ausdruck. Doch auch die christliche Perspektive fand Eingang in die Symbolik der Tabula Peutingeriana. So wurden die Hauptziele des spätantiken Pilgerwesens, die Peterskirche in Rom sowie das Heilige Land mit dem Ölberg und dem Sinaigebiet besonders hervorgehoben.

      Die Tabula Peutingeriana veranschaulicht das Imperium Romanum und die angrenzenden Gebiete: Teile des heutigen England, Nordspanien, Frankreich und Mitteleuropa bis zur Donau; im Süden erstreckt sich die Darstellung der Regionen bis auf das Gebiet des heutigen Nordafrika, im Osten bis nach Indien. Manche der nicht dargestellten [<<62] Teile werden auf nicht mehr zu rekonstruierende Blattverluste zurückgeführt. Prominent im Zentrum befindet sich Rom, flankiert von Italien und jeweils links und rechts von den Gebieten im Osten und Westen. Dem Betrachter wird aus der Perspektive Roms die eroberte Welt vor Augen geführt.

      Entstehungszusammenhänge

      Nicht vollständig geklärt sind die antiken Entstehungszusammenhänge dieser Karte. Inhaltlich basiert sie auf dem Itinerarium Antonini (Itinerarium provinciarum Antonini Augusti), einem Reisehandbuch aus der Zeit um 300 n. Chr., das die wichtigsten Straßenverbindungen mit Angaben von Orten, Stationen und Entfernungsangaben in Form von Listen beschreibt. In der spätantiken Tradition entstand eine Reihe von Werken, die zunächst dem praktischen Gebrauch und der Verwaltung dienten, darüber hinaus jedoch auch Funktionen der räumlichen und politischen Repräsentation übernehmen konnten. Dies zeigt sich schon in der Größe und graphischen Gestaltung der Karte, die in Form eines relativ schmalen, aber sehr langen, zu einem Rotulus gerollten Streifens die geographische Ausdehnung des gesamten römischen Machtbereichs darstellen konnte.

      Lange Zeit führte die Forschung die erhaltene mittelalterliche Kopie der Tabula Peutingeriana auf eine existierende Weltkarte des [<<63] Römischen Imperium zurück. Eine erste Fassung soll auf die berühmte Karte des römischen Feldherrn Agrippa († 12 v. Chr.) zurückgehen, die er in einer von ihm erbauten Säulenhalle in Rom anbringen ließ. Denn einige Details der Darstellung, wie etwa die Unversehrtheit der bereits 79. n. Chr. durch den Ausbruch des Vulkans Vesuv zerstörten Stadt Pompeji legen eine inhaltlich ältere Konzeption der Karte nahe. Das Vorbild der Wandflächen entlang einer Säulenhalle sei auch der Grund für die auffällige Form der Tabula, wird von der Forschung vermutet.

      Neuere Studien weisen jedoch sehr nachdrücklich auf eine andere Dimension des Rückgriffes auf antike Vorbilder hin. Sie sehen den Entstehungszusammenhang der Tabula Peutingeriana in der Funktion einer Weltkarte, die karolingische Welt des 9. und 10. Jahrhunderts mit ihren Macht- und Herrschaftsansprüchen in der Tradition des Imperium Romanum bildlich auszudrücken. So könnte gemäß dem wenig konkreten Eintrag mappa mundi in rotulis in einem Bücherverzeichnis des frühen 9. Jahrhunderts eine erste Vorlage der um 1200 entstandenen Abschrift möglicherweise aus der Abtei Reichenau stammen. Das Benediktinerstift am Bodensee gilt als ein Zentrum der „karolingischen Renaissance“.

      Doch dann schweigen die Quellen bis ins 16. Jahrhundert. Erst mit dem Interesse des Humanisten, Dichters und Gelehrten Conrad Celtis († 1508) an antiker Kartographie fand die Karte wieder Eingang in das gelehrte Wissen der Zeit. Celtis, Professor für Rhetorik und Poetik in Wien, entdeckte das Dokument in einem süddeutschen Kloster und vererbte es testamentarisch seinem Freund Konrad Peutinger († 1547), einem vermögenden Augsburger Kaufmann und Humanisten, mit dem Auftrag, es der gelehrten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nach ihm wurde das einzigartige Dokument einander überlagernder spätantik-mittelalterlicher Raumkonstruktionen schließlich in der Forschung auch benannt. Peutinger hatte sich bereits um eine kaiserliche Druckerlaubnis beworben, konnte jedoch sein Vorhaben nicht mehr ausführen. Als Teil der Peutinger’schen Bibliothek geriet die Karte wieder in Vergessenheit. Erst 1720 gelangte sie über die Sammlung des kaiserlichen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen wieder zurück nach Wien in die kaiserliche Hofbibliothek. Die Tabula Peutingeriana wird heute in den Beständen der Wiener [<<64] Nationalbibliothek aufbewahrt und zählt seit dem Jahr 2006 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe.

      2.2.2 Spätantike Epigraphik und das Ende der Alten Welt (300–500)

      Fritz Mitthof, Wien

      Inschriften im öffentlichen Raum

      Die Allgegenwart von Inschriften unterschiedlichster Gattungen auf dauerhaften Schriftträgern wie Stein oder Bronze war in der römischen Kaiserzeit ein grundlegender Bestandteil des öffentlichen Lebens. Die Städte des Imperium Romanum boten in vielfältiger Weise Raum für die inschriftengestützte Kommunikation zwischen Herrscher, Herrschaftsapparat, Reichselite, örtlicher Elite und Unterschichten: zunächst auf dem forum, dem zentralen Platz und Ort offizieller Verlautbarungen ebenso wie der Ehrung herausragender Persönlichkeiten, sodann in den öffentlichen Gebäuden, Tempeln, Kultstätten und Privathäusern der Vornehmen, die mit Bau-, Weih- und Ehreninschriften geschmückt waren, sowie in den Nekropolen, die sich vor den Toren der Stadt entlang der Zufahrtsstraßen hinzogen und zahllose Grabmonumente beherbergten – ganz abgesehen schließlich von den Graffiti und Dipinti, mit Griffel geritzten oder mit Pinsel gemalten Kurzmitteilungen jeden erdenklichen Genres, mit denen Bauwerke und Monumente überzogen