Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Raum beherrscht wurde. Im Verlauf des 7. und 8. Jahrhunderts lösten sich diese Zuwanderer dann allmählich aus dem awarischen Machtbereich und bildeten, als Kroaten bezeichnet, ab dem 9./10. Jahrhundert einen eigenen Herrschaftsbereich.

      Spricht die Forschung heute nicht mehr von germanischen „Völkern“ mit einer „Urheimat“ in Skandinavien, so wurde in den letzten Jahren auch die Idee einer „slawischen Urheimat“, von der aus sich die heutigen slawischen Völker in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet hätten, kritisch betrachtet: Vielmehr wird z. B. gefragt, wie [<<57] und unter welchen Umständen der Begriff „Slawe“ in spätantiken und frühmittelalterlichen, zumeist byzantinischen, Quellen überhaupt aufscheint. Deutlich wurde, wie die byzantinischen Eliten, die an der mittleren und unteren Donau das Vordringen slawischer Kleingruppen abzuwehren hatten, die Komplexität der gegnerischen Gruppen durch die Schaffung eines Überbegriffs zu fassen versuchten. Sie kategorisierten – und konstruierten dadurch – eine gegnerische Gruppe, die bestimmte Eigenschaften in Lebens- und Kampfweise besaß, und vereinfachten – militärstrategisch sinnvoll – eine komplexe soziale Wirklichkeit. Die Beschreibung des Gegners zu dessen Bekämpfung war das Ziel des sog. Strategikón des Mauríkios, eines Militärhandbuches, das zugleich eine der wichtigsten Quellen zur frühen Geschichte der Slawen darstellt.

      Abnehmende Schriftlichkeit

      Nicht nur Epochendeutungen und die kritische Diskussion vermeintlich eindeutiger ethnischer Zuordnungen beschäftigen die Forschung zum frühen Mittelalter. Sie hat sich mit weiteren erheblichen methodischen und wissenschaftsgeschichtlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Der Rückgang, im regionalen Extremfall das Verschwinden, imperialer und kirchlicher Verwaltung zeitigte einschneidende Folgen für die Überlieferung. Die Schriftlichkeit ging allgemein massiv zurück und erreichte im 7. Jahrhundert im Frankenreich einen Tiefstand. Die geringe Schriftproduktion zur Zeit der Merowinger hebt sich aber immer noch von dem fast gänzlichen Verschwinden von Schrift und Text in den Donauländern und innerbalkanischen Provinzen des früheren Römischen Reichs ab. In Südosteuropa wurde nur noch in einigen Küstenstädten Schriftlichkeit gepflegt: in Qualität und Quantität überragte die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs, Konstantinopel, alle anderen Häfen an Adria (Iadera/Zadar, Raúsion/Dubrovnik) und Ägäis (v. a. Thessalonike). Unser bescheidenes Wissen über die Vorgänge im Inneren Südosteuropas stammt aus Schriftquellen, die räumlich gesehen an seiner äußersten Peripherie entstanden sind und die zumeist kein unmittelbares Interesse an unserem Betrachtungsraum zeigen: Byzantinische Geschichtsschreibung war in erster Linie auf den Kaiser und dessen Hof bezogen; viele byzantinische Literaten hatten Konstantinopel zeitlebens kaum verlassen. Das Ende der Antike verringerte Schriftlichkeit nicht nur quantitativ: einzelne in der Spätantike blühende Gattungen wie die Redekunst und die [<<58] Geschichtsschreibung verloren an Bedeutung, doch verlagerte sich die erzählende Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen in andere Genres, besonders die Heiligenleben.

      Träger der Überlieferung

      Neben einer mengen- und gattungsmäßig veränderten Schriftlichkeit muss die Forschung in vielen Fällen daher auf andere Arten der Überlieferung zurückgreifen, um politische, vor allem aber soziale und kulturelle Entwicklungen wenigstens in Umrissen rekonstruieren zu können; und auch hier gilt die Regel der erheblichen regionalen Unterschiede. Formen schriftlicher und bildlicher Überlieferung sind nicht nur auf Pergament (und später Papier) erhalten, sondern auch auf Stein und Metall: Inschriften und Siegel werden daher im Folgenden als Träger von Überlieferung vorgestellt. Materiell greifbar sind auch die Ergebnisse archäologischer Ausgrabungen, die auch in Gegenden und zu Zeitabschnitten erfolgen können, aus denen kaum Textzeugnisse, auch nicht auf Stein oder Metall, vorliegen.

      Für die materialmäßig besonders schlecht erschlossenen inneren Teile des Balkans schließlich untersucht die Forschung auch die Sprachen – slawische wie nichtslawische – als Quellen, und zwar sowohl ihre Form (Morphologie) wie ihren Wortschatz (Lexik), die Aufschlüsse über kulturelle Berührungen und soziale Wechselwirkungen in der langen Dauer erschließen. Von besonderer Bedeutung für den gesamten Betrachtungsraum ist zudem die Erforschung von Orts- und Geländenamen (wobei zwischen größeren Bezugspunkten wie wichtigen Flüssen und Bergmassiven und der Mikrotoponomastik, also etwa Bächen und Flurnamen, zu unterscheiden ist): Kontinuität von Siedlungen oder zumindest weiter bestehende Kenntnis von Siedlungsnamen, deren Übernahme in neu auftretende Sprachen, oder Hinweise auf die Neugründung von Siedlungen sind nur einige der Angaben, die Orts- und Geländenamen mitteilen. Archäologie und Sprachwissenschaft werden somit zu Grundlagenwissenschaften historischer Forschung zum frühen Mittelalter.

      Herkunft und Sprache

      Forschungsgeschichtlich war die Deutung des Frühmittelalters in unserem Betrachtungsraum von den zumeist in nationalhistoriographischem und damit politischem Rahmen debattierten Fragen nach den Ursprüngen und Siedlungsgebieten heutiger Nationen geprägt – und teilweise ist sie dies immer noch: Sind die heutigen Griechen Nachfahren der antiken Griechen und haben diese auf dem ganzen heute [<<59] griechischen Staatsgebiet gewohnt? Stammen die heutigen Albaner von den antiken Illyrern ab, bewohnen sie deren einstiges Siedlungsgebiet und beweist eine solche Kontinuität den Anspruch der Albaner auf den auch von Serben bewohnten Kosovo, um den bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein erbitterter, bis heute nicht völlig gelöster albanisch-serbischer Konflikt besteht? Und leiten sich die Rumänen vom antiken Volk der Daker ab, die 117 n. Chr. von den Römern unterworfen und romanisiert wurden, auf jeden Fall aber vor den Magyaren im Karpatenbogen siedelten, um den seit dem 18. Jahrhundert Ungarn und Rumänen mit Argumenten aus der antiken und frühmittelalterlichen Geschichte eine emotionale Debatte um das historische Recht auf Siebenbürgen führen?

      Allen diesen heutigen Nationen – Griechen, Albanern und Rumänen – gemeinsam ist, dass ihre Sprachen schon in der Antike im südöstlichen Europa gesprochen wurden. Ihre nicht miteinander verwandten Sprachen sind alle nicht slawisch. Trotz fehlender Verwandtschaft weisen sie einige gemeinsame Elemente auf, die auf ein langes gemeinsames Mit- und Nebeneinander hindeuten. Geht es den Nationalhistoriographien darum, die Kontinuität dieser „Völker“ von der Antike bis heute zu belegen und damit moderne Gebietsansprüche historisch zu untermauern oder symbolisches Kapital zu erwerben (das moderne Griechenland sieht sich etwa gerne als Mutterland der Demokratie), so heben Historiker von Nationen, die in nationalhistoriographischer Sicht im Frühmittelalter entstanden sind, die Epoche als zumeist mythenumwobene Zeit ruhmreicher Anfänge hervor. Dies gilt sowohl für jene beiden modernen Nationen, die sich von Steppenreitergemeinschaften ableiten, die im 7. bzw. Ende des 9. Jahrhunderts in den Donau-Balkan-Raum vorgedrungen waren (sog. Proto-Bulgaren und Magyaren), als auch für die modernen südslawischen Nationen der Kroaten, Serben und Slowenen. Gerade weil einige dieser Nationen bis in das 19., oft auch das 20. Jahrhundert hinein keine Eigenstaatlichkeit besaßen (→ Kap. 1), kam den mythischen Anfängen besondere Bedeutung zu: Der frühe Eintritt in die europäische Geschichte sollte den Wunsch nach Loslösung aus der Habsburgermonarchie bzw. dem Osmanischen Reich in der Neuzeit rechtfertigen. Eine moderne Nation wie jene der Bulgaren, die erst 1878 Autonomie erlangte, legte Wert auf die Behauptung, [<<60] den „ältesten Staat“ Europas zu besitzen: Das im 7. Jahrhundert an der unteren Donau entstandene Chanat der Proto-Bulgaren, dem Byzanz 681 Tribut zahlte, wurde in einer Vorstellung unmittelbarer ethnisch-nationaler Kontinuität seit diesem Jahr gedeutet. Zugleich wurde mit dem Beharren auf uralter Staatlichkeit das Gefühl kultureller Unterlegenheit gegenüber dem westlichen Europa kompensiert.

      Ein übergreifender Ansatz wird demgegenüber versuchen, grundlegende Entwicklungen der Epoche zu begreifen. Dazu zählen die Transformation der spätantiken christlichen Kultur in Mitteleuropa und die erneute Christianisierung weiter Teile Südosteuropas sowie die langsame Herausbildung einer neuen Herrschaftswelt in Mittel- und Südosteuropa, die wesentlich mit der Integration germanischer und slawischer Gruppen sowie von Steppen-„Völkern“ (in einem nicht ethnisch essentialisierenden Sinn der Begriffe) verbunden ist. Beide Prozesse – kirchliche Verstetigung und Mission sowie politische Stabilisierung – sind dabei auf das engste verwoben, wie am Beispiel der sogenannten „Slawenmission“ gezeigt werden wird, einer Bewegung, die vor allem von Rom und Konstantinopel ausging und die gesamteuropäischen Bezüge unseres Betrachtungsraumes besonders deutlich