Kulturgeschichte der Überlieferung im Mittelalter. Oliver Jens Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oliver Jens Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846345542
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Bulgaren als Kerngruppe von Kriegern mit der ansässigen altbalkanischen Bevölkerung und slawischen Gruppen südlich der unteren Donau [<<53] erfolgte, die eine gemeinsame ostsüdslawische Sprache verwendeten, ist nicht genau zu klären.

      Die Verfestigung ihrer Ende des 7. Jahrhunderts errichteten Herrschaft, die in das heutige Rumänien und Ungarn hineinreichte, gelang den Bulgaren durch die Annahme des Christentums 864/65. Die Missionierung der (aus der Perspektive der christlichen Welt) heidnischen, d. h. nichtchristlichen Bulgaren wurde von Rom, dem ostfränkischen Reich und Konstantinopel aus in zunehmender Konkurrenz betrieben. Sie stand in engstem Zusammenhang mit der Christianisierung des zwischen dem ostfränkischen Reich und der bulgarischen Herrschaft liegenden mährischen Reichs im Donaubecken. Die Entfremdung zwischen Rom und Byzanz, die Entstehung einer katholischen Papstkirche und einer orthodoxen Kirche unter dem Patriarchen von Konstantinopel ist nicht zuletzt Folge des Wettlaufs um die Christianisierung des Donau-Balkan-Raumes.

      Magyaren

      Ende des 9. Jahrhundert gewann mit der Migration, Landnahme und Herrschaftskonsolidierung der Magyaren ein weiteres „Volk“ aus dem Steppenraum im Karpatenbogen an maßgeblicher Bedeutung. Seine Christianisierung erfolgte erst hundert Jahre später, wiederum in einem langwierigen Prozess und im Spannungsfeld zwischen Rom und Byzanz. Mit der Annahme des Christentums wurden Bulgaren wie Magyaren als einzige Steppen-„Völker“ Teil der christlichen Staatenwelt. Das erst viel später – ab dem 13. Jahrhundert – als Reich der Stephanskrone bezeichnete Ungarn, benannt nach dem Hl. Stephan, seinem ersten getauften König, erwies sich dabei als deutlich stabiler als das bulgarische Reich. Dies erklärt die ungarische Betonung seiner Krone als einer staatsrechtlichen Tradition ungeachtet aller territorialen Veränderung bis ins 21. Jahrhundert. Ähnliches gilt für die kroatische Staatsidee: Im Westen der Balkanhalbinsel hatte sich im 7. Jahrhundert im Hinterland Dalmatiens mit „Kroatien“ eine weitere, dauerhafte Herrschaft herausgebildet, deren Krone (abermals im Sinn der Herrschaftstradition) ohne Unterbrechung bis 1918 Bestand hatte, allerdings seit dem 12. Jahrhundert mit Ungarn verbunden war. Venedig, formell byzantinische Provinz, machte sich als Ordnungsfaktor im Kampf gegen slawische und arabische Piraten bereits bemerkbar.

      Wenig bekannt ist über den inneren Balkan, das heutige Bosnien und Serbien. Dieser Raum stand im Spannungsfeld von Kroatien, [<<54] Bulgarien, Byzanz und Ungarn. Im späteren 9. Jahrhundert lässt sich eine südslawische (serbische) Herrschaft im heutigen südwestlichen Serbien (Raška; heute Region Novi Pazar) schemenhaft erkennen.

      Interdisziplinarität

      Was hier in groben Zügen geschildert wird, erarbeitete die historische, archäologische, bild- und sprachwissenschaftliche Forschung in mühsamer Kleinarbeit. Ausgrabungen, Inschriften, Siegel, Bildquellen stellen hohe Anforderungen an die Interpretierenden. Entsprechend spezialisiert sind die Forschungszweige, in deren Gegenstände und Arbeitsweisen die folgenden Abschnitte Einblick geben. Sie sollen – wie bereits der wissenschaftshistorische Abriss im ersten Kapitel – sichtbar machen, in welchem Maß die Mittelalterforschung auf die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Disziplinen angewiesen ist, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen – und dies jenseits aller Moden auch immer war. Aus einer überlieferungsgeschichtlichen Perspektive wird zudem deutlich, dass sich Geschichtswissenschaften keineswegs allein mit schriftlichen Hinterlassenschaften befassen. Im Gegenteil, die folgenden Abschnitte zur frühmittelalterlichen Geschichte sollen zeigen, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Überlieferung in diesem Zeitraum Schriftquellen im engeren Sinn darstellen. Das Kapitel über die Kirche als Trägerin schriftkultureller Tradition (→ Kap. 2.3) ist daher eingebettet in jene zu maßgeblichen spätantiken Forschungsgegenständen und Methoden (Kartographie, Epigraphik, Linguistik) einerseits (→ Kap. 2.2), und andererseits zur dinglichen und bildlichen Überlieferung (→ Kap. 2.4), die lange Zeit das Gros der Quellen in unserem Untersuchungszeitraum ausmacht. Auch hier gilt – wie für alle Teile dieses Buches – dass zeitliche und räumliche Grenzen fließend sind: Die Mittelalterarchäologie spielt selbstverständlich auch für das 12.‒15. Jahrhundert eine herausragende Rolle, ebenso wie die formale und ikonographische Interpretation von Bildern und ihren vielfältigen Trägern: Wände, Stoffe und Bücher, Siegel, Wappen und Münzen. Für die frühen Jahrhunderte stellen sie jedoch vielfach die einzige Grundlage unseres Wissens über die Vergangenheit dar. [<<55]

      2.2 Forschungstraditionen und Methoden zur frühmittelalterlichen Geschichte Mittel- und Südosteuropas

      Transformation der Römischen Welt

      Die Frage, wie das Ende römischer Staatlichkeit und das Entstehen neuer Formen politischer Macht zu erklären und die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in Europa am Übergang vom Altertum zum Mittelalter zu deuten sind, ist Gegenstand der klassischen Diskussionen der europäischen Geschichtswissenschaft seit der Aufklärung. Die Deutungen – der Althistoriker Alexander Demandt hat weit über 200 zumeist monokausale Erklärungen für den Fall Roms zusammengetragen – spiegeln in hohem Maße das politisch-kulturelle Selbstverständnis der beteiligten Historikerinnen und Historiker wider. So sprach der französische Gelehrte André Piganiol davon, das blühende Römische Reich sei von Barbaren ermordet worden – sein biographisches Schlüsselerlebnis war der Zusammenbruch Frankreichs unter dem Angriff des „Dritten Reichs“ im Jahre 1940. Bruch oder Übergang, beide in verschiedensten Unterformen und Schattierungen, bilden die beiden zentralen Erklärungsansätze. Die Forschung betont für den Westen des Römischen Reichs in den letzten Jahrzehnten Phänomene des Übergangs – bahnbrechend war etwa das mehrjährige Verbundprojekt der European Science Foundation mit dem Titel Transformation of the Roman World –, auch wenn Theorien von einem massiven Kulturverfall (so der britische Archäologe Bryan Ward-Perkins) wieder aufgegriffen werden.

      Brüche und Kontinuitäten

      Für unseren Betrachtungsraum besonders bedeutsam aber ist, dass diese Theorien nicht allgemein gültig angewandt werden können: Während an der oberen Donau und im Alpenraum zwar die römische Herrschaft verschwand, hielt sich, wenn auch geschwächt, die christliche Kirche als Trägerin wichtiger Teile der spätantiken Kultur. Die Tradition wurde zwar ausgedünnt, aber nicht unterbrochen. Anders in weiten Teilen des Balkans: Hier hinterließen im Gegensatz zur oberen Donau die durchziehenden germanischen Gruppen kaum dauerhaft Spuren. Dafür führten die ab dem 5. Jahrhundert zu beobachtenden, im 6. und 7. Jahrhundert sehr starken Bewegungen zumeist kleiner slawischer Gruppen zu einem Zusammenbruch von politischer und kirchlicher Tradition. Ausgenommen waren nur von [<<56] See her gut erreichbare Außenposten des Byzantinischen Reichs in Dalmatien, den ionischen Inseln und Festlandgriechenland. Christliche Kultur verschwand nicht völlig, wohl aber die Kirche als Institution. Wenngleich Elemente der Kontinuität vorhanden sind – im albanischen Fall eine Sprach- und relative Siedlungskontinuität, beim rumänischen Beispiel jedenfalls eine sprachliche –, wirkte der Bruch ungleich stärker.

      Ethnogenesen

      Bedeutendes hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten auch zur Klärung der Frage geleistet, wer denn die Akteure der Veränderungen waren. Im Gegensatz zu den bis in die vierziger Jahre vorherrschenden und auch nach 1945 teils weiter bestehenden Vorstellungen von germanischen Völkern, im Sinne eines modernen Nationsbegriffs, haben im Anschluss an Reinhard Wenskus und in Weiterentwicklung seiner Thesen die Wiener Mediävisten Herwig Wolfram und Walter Pohl aufgezeigt, dass der Begriff „Volk“ für die Untersuchungsgegenstände der Frühmittelalterforschung mit besonderer Vorsicht zu verwenden ist, da sich die Annahme geschlossener ethnischer Großgruppen nicht für das Verständnis der soziokulturellen Veränderungen zwischen dem 4. und dem 9. Jahrhundert eignet.

      Fruchtbar gemacht wurde eine differenziert weiter entwickelte Theorie von namengebenden, politisch und militärisch erfolgreichen Kerngruppen. Wer sich ihnen anschloss, nahm den Erfolg versprechenden Gruppennamen an. Wurde diese Gemeinschaft militärisch und politisch besiegt, ging damit nicht ein Volk gleichsam biologisch unter. Vielmehr bildeten sich neue Herrschaftsverbände, denen