Meine Seele will endlich fliegen. Hermine Merkl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermine Merkl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991076704
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war, dass ich mich nun auch in meinem Denken und Fühlen ganz und gar nicht mehr verstand. Unten war oben – oben war unten! Bei mir war alles irgendwie komplett durcheinandergeraten. Doch das Schlimmste für mich war, dass da niemand war, mit dem ich über alles hätte reden können. Und so fing ich bereits sehr früh an auf die Stimme meines inneren Kritikers und Richters zu hören und ich erlaubte ihnen Urteile über mich, die sehr schmerzhaft waren. So wurde diese „empfindliche Zeit“ im Leben eines Teenagers für mich zur Tortur. Für manche von Ihnen als Leser mag sich das Ganze gar nicht so dramatisch lesen wie es meinem Empfinden nach war. Sie können vielleicht gar nicht verstehen, warum ich auf all dies so hochsensibel reagierte. Und ehrlich gesagt verstand ich mich ja selbst auch nicht. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich konnte all diese Gedanken und Gefühle nicht verstehen. Und ich wusste nicht, wie ihnen beizukommen war. Und am meisten ärgerte ich mich über mich selbst, weil ich in diesem Gefühlschaos gefangen war und mich wie festgenagelt fühlte. Und „hungrig“ und neidisch schaute ich auf all die anderen, die es vermeintlich besser hatten als ich. Heute bin ich mir dessen bewusst, wie sehr ich im Selbstmitleid versunken war, weil ich kein ausreichendes Feedback von anderen hatte und nicht verstehen konnte, warum mein Leben so war wie es war. Im Grunde genommen sah ich nicht wirklich einen Sinn in meinem Leben. Eine der Fragen, die ich mir bereits sehr früh und immer und immer wieder stellte, war: Was soll bzw. was kann ich der Welt schon geben?

      Auf der Suche nach einer Antwort, heillos überfordert mit diesen „Schwergewichten“ an Gefühlen und gefangen in einem Gedanken-Karussell, das sich unablässig drehte, hing ich in einer Art von Wiederholungsschleife fest. Und die CD, die darin abgespielt wurde, hatte stets die gleiche Melodie. Doch leider nicht in Dur, sondern in Moll. Das waren Gedanken wie: „Ich gehöre gar nicht hier her.“ – „Hier fühle ich mich nicht wohl.“ – „Was soll ich hier?“ – „Wer interessiert sich denn überhaupt für mich?“ – „Warum fühle ich mich unter den Menschen so fremd?“ Und irgendwie hasste ich mich auch dafür, dass ich meinem Leben nichts abgewinnen konnte und so undankbar war. Dass ich mich weniger gefördert und geliebt sah als ich es bei meinem Bruder beobachten konnte. Ich hasste mich dafür, dass ich so neidisch auf ihn war, jedoch diesen Groll und die Bitterkeit nicht zur Sprache bringen konnte. Dass ich keine Worte finden konnte, um mich mitzuteilen, um wahrgenommen zu werden. Manchmal hasste ich mich so, dass ich mich am liebsten ausradieren wollte, um zu sehen, ob den anderen dann wenigstens auffällt, dass ich fehle. Ich fand es ungerecht, dass er alles mit einer gewissen Leichtigkeit bekam und ich meiner Meinung nach um alles so zu kämpfen hatte. Von Menschen, die fröhlicher und wohlgelaunter sein konnten als ich, hörte ich Sätze wie „Du musst dir halt einfach eine dickere Haut zulegen.“ oder „Du musst zum Lachen wohl mal in den Keller gehen.“ bzw. „Werde doch endlich mal lustiger!“ usw. – Ehrlich gesagt halfen mir diese ganzen wohlgemeinten Ratschläge nichts. Hatte sich in mir doch schon so viel „Gedanken-Müll“ angesammelt, nur wusste ich nicht, wohin damit. Und je fordernder meine Welt im Außen war, umso mehr zog ich mich immer noch mehr in meine angstbesetzte Welt des Schweigens und des Träumens zurück.

      So aber wurde ich erst recht eine Gefangene meiner Gedanken und Gefühlswelt. Dass dies alles andere als gesund war, das wusste ich jedoch nicht. Ich ging vielmehr davon aus, dass das Leben einfach nur anstrengend und beschwerlich ist. Dass es nur sehr wenig Freudvolles gibt. Und dass es für Menschen wie mich nicht wirklich etwas zu lachen gibt. Für mich gab es neben den Kategorien „reich und arm“, sowie „begabt und unbegabt“ noch eine weitere Kategorie Mensch. Die „vom Glück Geküssten“. Zu dieser Gruppe gehörte mein Bruder. Zumindest meiner Meinung nach. Und das Pendant dazu in der „Gruppe der Verlierer“ spielte ich, da ich mich vom Wohlwollen Gottes als weniger beschenkt sah. Meine religiöse Erziehung lehrte mich, dass Gott unser „oberster Richter“ ist und dass diesem Gott auch nicht das kleinste Fehlverhalten entging. Doch was habe ich irgendwann einmal getan, dass dieser Gott mich anscheinend nicht so liebte wie meinen Bruder? – Hätte er mir sonst nicht auch ein Mehr an Intelligenz und Begabung gegeben? – Was bitte sind die Fähigkeiten, auf die ich als Mädchen/Frau zuversichtlich schauen kann? – Was sind die Fähigkeiten, die ich aus mir selbst heraus entwickeln kann? – Ich wusste es einfach nicht. Ich sah diese Fähigkeiten nicht. Und es fehlte mir ein Gegenüber, das mir half, dieses Potential, das in mir ruhte, Schritt für Schritt zu entwickeln. – Stattdessen spürte ich immer und immer wieder nur diesen unendlich tiefen Seelenschmerz. Fühlte mich weder gesehen, noch verstanden, sondern einfach nur überfordert mit all den Gedanken, mit all den Gefühlen, mit all den Hormonen. Überfordert mit mir und der Welt. Das Schlimmste jedoch war, dass ich über all dies nicht sprechen konnte. Mir war, als hätte mir jemand meinen Mund zugeklebt, versiegelt. Als hätte mir jemand gesagt: „Du bist sehr, sehr undankbar. Solche Dinge sagt man nicht. Solche Dinge denkt man nicht. Solche Dinge fühlt man nicht.“

      Was für eine verrückte Welt, was für eine innere Zerrissenheit, in der ich lebte. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen dem Guten und dem Bösen. Zwischen Himmel und Hölle. Mal war ich unten, mal war ich oben. Es war ein ständiges Kräftemessen. Und sobald ich mich entschied in meinem Denken, Handeln und Sein nur noch die „Gute“ sein zu wollen, konnte ich fast schon darauf wetten, dass sich mir im Außen wieder eine Situation zeigte, die ich zu bewältigen hatte. Und schon meldete sich ungefragt und unerwünscht erneut das „Böse“ in mir in Form meiner Gedanken und Gefühle, obwohl ich doch beschlossen hatte sie zu besiegen. Doch so einfach, wie ich mir das dachte, war dies nicht. Ganz im Gegenteil. Und da ich aufgrund meiner Harmoniesucht und der ewigen Suche nach Anerkennung und Liebe eine panische Angst vor Sanktionen und Ablehnung hatte, lebte ich die ganze „Frust-Energie“ nicht nach außen hin, sondern gewöhnte mir stattdessen ein ziemlich ungesundes Verhalten an, indem ich die ganze zerstörerische Energie gegen mich selbst richtete. Nach außen hin vermied ich es jedoch, meine negativen Gefühle zu zeigen. Stattdessen versteckte ich mich in meinem Schneckenhaus und redete mir dort ein: „Hier kann mich keiner finden. Hier kann mich keiner sehen.“ So richtete ich mir nach und nach mein Leben in einer Art von Rückzug, innerer Rebellion und partieller Wut ein. Was mir aber nicht klar war, war, wie viel Lebensfreude und Lebenskraft ich dadurch verlor. Heute erst weiß ich, dass ich mir mit der Kraft meiner Gedanken diese ganzen Situationen selbst erschaffen hatte. Egal ob in der Schule oder in der Familie. Mit so viel Zerrissenheit und negativer Energie, die ich in mir trug, vermochte ich es weder mich meinem Leben ganz hinzugeben, noch mit den Menschen vertraut zu werden, nach deren Liebe ich mich so sehr sehnte. Wer mir dabei am meisten fehlte, war meine Mutter. Und da ich stets auf der Suche nach dieser Liebe war, konnte ich mich auch nicht wirklich von ihr abnabeln und trennen. Stattdessen habe ich die Erfahrung gemacht: Wenn du derart nach Liebe suchst, dann bleibst du ewig das Kind, das dürstet und hungrig ist. Dann kannst du nicht wirklich erwachsen werden. Dann bleibst du selbst als erwachsene Frau in diesem „hungrigen Kind-Bewusstsein“ stecken. Und jedes Mal, wenn du dieser Mutter begegnest, dann suchst du und suchst und suchst. Du kannst dieses Angenommen-Sein, diese Wertschätzung, sowie das Geliebt-Werden auch bei deinem Partner/deiner Partnerin, deinen Freunden, Arbeitskollegen suchen, doch du wirst es vergeblich suchen. Du bleibst so lange hungrig und bedürftig, bis du eines Tages beschließt, dir selbst beste Mutter, bester Vater, bester Partner/beste Partnerin, bester Freund/beste Freundin zu werden. Bis du dich mit der Vergangenheit ausgesöhnt hast und beginnst, dich selbst liebevoll um dich und deine wahren Bedürfnisse zu kümmern. Bis du die Liebe und alles, was dazu gehört, dir selbst zu geben vermagst. Immer und immer wieder. Letztlich so lange, bis du dich wohl-genährt und gesättigt fühlst.

      So suchte ich als Teenager und junge Frau oft sehr verzweifelt meinen Weg. Und da ich mit so viel Frust, den ich in mir trug, davon überzeugt war, auch in Gott keine wirkliche Hilfe und Unterstützung zu finden, tat ich das, was ein verletztes Kind tut, wenn es sich vernachlässigt und ungeliebt fühlt, ich wandte mich immer mehr von ihm und „Mutter Kirche“ ab, weil ich so sehr mit meinem Schmerz beschäftigt war. Letztlich wurde ich so immer mehr zu einer Gefangenen in mir selbst. Mit meiner kindlichen Wut, meinen Gedanken und nicht gelebten Gefühlen hatte ich mir selbst Fesseln angelegt. Und diese Fesseln trugen sogar Namen. Sie hießen Schuld und Scham. So hatte ich mir mein eigenes Drama, das Drama eines scheinbar weniger begabten und ungeliebten Kindes kreiert. Und dies lebte ich sowohl zuhause als auch in der Schule. – Soweit zu meiner Biografie.

      Als ich anfing, darüber nachzudenken und zu schreiben, zeigten sich