Meine Seele will endlich fliegen. Hermine Merkl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermine Merkl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991076704
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wir diese Stelle zu passieren haben, erschreckt uns ein ziemlich großer Hund, der fürchterlich aggressiv bellt, so dass unsere Herzen bis in die Kniekehlen rutschen vor lauter Angst davor, dass er uns eines Tages erwischt. Wer von uns beiden mehr Angst hat, darüber denken wir gar nicht erst nach. Reflexartig reagieren wir, drücken uns gegenseitig die Hand als wollten wir uns auf diese Art Mut zusprechen und flüchten vor dem Ungetier. Sind immer wieder froh, wenn wir unser Ziel Kindergarten erreichen. – Und auf dem Rückweg noch einmal das gleiche „Spiel“. Was mir aus dieser Kleinkind-Zeit aber mehr als diese kleine Geschichte im Gedächtnis blieb, war ein ganz wichtiges Gefühl für mich. Das Gefühl von inniger Vertrautheit, Zusammenhalt und Schutz. Und wenn ich an diesen Händedruck meines Bruders zurückdenke und diesen in Worte übersetze, dann sagt er mir: „Wie gut, dass ich diesen Bruder an meiner Seite habe. Gemeinsam sind wir stark. Gemeinsam schaffen wir es. Gemeinsam erreichen wir unser Ziel.“

      Und auch wenn da auf Seelenebene diese innige Vertrautheit und Verbundenheit zwischen uns war, so wurde auf der Bühne unseres Lebens die Rollenverteilung zwischen uns schon früh festgelegt. Ohne dass wir uns dessen bewusst waren, bekam er die Hauptrolle und ich eine Nebenrolle. – Und so erschuf ich mir unbewusst mit meinen Gedanken und Gefühlen meine Realität, und mein Bruder mit seinen Gedanken und Gefühlen seine Realität. Denn was es hierbei zu beachten gilt, ist, dass wir uns mit unseren Gedanken und Gefühlen, die mit bestimmten Ereignissen im Zusammenhang stehen, die Welt im Kleinen wie im Großen erschaffen. Und auch wenn ich lange dazu brauchte, um die entsprechende Einsicht zu gewinnen, so lernte ich für mich: Er muss eine ganz andere Seelenaufgabe haben als ich. Wo ihm die Herzen, die Aufmerksamkeit und Bewunderung anderer zuflogen, da lautete die Seelenaufgabe, mit der ich angetreten bin: Lerne dich selbst wertzuschätzen, dann werden dich auch die anderen wertschätzen. Lerne dich selbst mit allem, was dich ausmacht, wahrnehmen und sehen, dann werden dich auch die anderen sehen. Lerne dich selbst erst zu lieben, dann werden und können dich auch die anderen lieben.

      Das erklärt dann natürlich die gänzlich unterschiedlichen Vorzeichen, mit denen wir in dieses Leben gestartet sind. Aber jeder von uns wird seinen Grund gehabt haben, warum er sich diese Aufgaben so erwählt hat und nicht anders. Und im Sinne unserer Aufgaben, die wir uns als Seele gestellt hatten, sollte uns unsere Welt (Eltern, Geschwister, Freunde, Partner, Arbeitskollegen etc.) im Außen spiegeln, was es innerhalb dieser Inkarnation als Seelenlektion zu erkennen und zu lernen gilt.

      Das Problem ist nur, dass wir zwar noch mit diesem Seelenwissen unsere Reise in die irdische Welt angetreten sind, doch vergessen wir mit unserer Geburt alles und müssen dann erst nach und nach wieder herausfinden, welche Lektion gelernt sein will. Und so bestach mein Bruder bereits im Kindergartenalter die Erzieherinnen mit seinem Charme, während ich ziemlich ängstlich, zurückgezogen, verhalten, in mich gekehrt, ruhig und unscheinbar war. – Hier zeigte ich mich ganz anders als zuhause, wo ich eher ein Wildfang war. – Was aber auch an meiner Wesensart liegt, denn ich brauche immer eine gewisse Zeit um sozusagen „aufzublühen“. Betrete ich neues Terrain, bin ich erst einmal sehr verhalten und schau mir das Ganze aus einer sicheren Entfernung und mit viel Distanz an. Die Rollenverteilung zwischen meinem Zwilling und mir setzte sich über die ganze Schulzeit hinweg fort, denn von der ersten Klasse an waren wir bis zum Abitur immer in der gleichen Klasse. Ob dies für uns von Vorteil war? – Im Nachhinein betrachtet sage ich nein!

      Ich würde es keinem Zwilling raten in die gleiche Klasse wie das Geschwister zu gehen.

      Von der ersten bis zur achten Klasse war es okay. Während dieser Zeit konnten wir gut damit umgehen. Schulisch gesehen waren wir gleich gut. Es tat keinem weh, dass auch der andere ein Teil des Klassenverbunds war. Wir machten uns keine Gedanken über ein Wer? – Was? – Wie? In diesen Jahren konnte so vieles noch auf leichte und spielerische Art und Weise geschehen. Erst während der Gymnasialzeit – und auch hier erst mit Ende der achten und Beginn der neunten Klasse und der fragilen Zeit der Pubertät – begann der stete Vergleich mit ihm sich für mich immer mehr zum Nachteil auszuwirken.

      Auf einmal fing es an, dass ich schwächer wurde als er. Latein – sein Lieblingsfach – wurde für mich trotz anfänglicher Begeisterung immer mehr zu meinem „Hass-Fach“. Die Punischen Kriege und so manch anderer Text machten es mir zunehmend schwer. – Die ersten drei bis fünf Sätze übersetzte ich noch schön brav so, wie es von mir gefordert war, doch dann ging in aller Regel meine Phantasie mit mir durch und führte mich – was die historischen Fakten und Daten betraf – immer mehr auf Abwege. Diese Art zu übersetzen machte mir so zwar „Spaß“, so lange sie un-bewertet blieb. Doch die Freude darüber hielt nie lange an, denn mein Lateinlehrer teilte diese Freude leider nicht.

      Auch mein Englischlehrer setzte mich – statt mich angesichts einer guten Note zu loben – immer wieder mal und dies mehr als es mir lieb war mit den „galanten“ Worten eines Pädagogen schachmatt: „Denk dir nichts, Merkl. – Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn!“ – Dieser Satz klingt mir heute noch in den Ohren nach. Hat sich mir vehement in jede einzelne meiner Zellen eingebrannt. – Pädagogisch gesehen ein besonders „hochwertiger“ Kommentar. Dass ich mich in der Folge davon für Englisch als Sprache „brennend“ interessierte, versteht sich nach diesen „liebreizenden“ Worten von selbst.

      Interessant war für mich, dass es immer nur die männlichen Pädagogen waren (jedoch zum Glück nicht alle), die meine Eltern an den Eltern-Sprechtagen des Öfteren damit konfrontierten: Arbeiterfamilie – zwei Kinder, Gymnasium und Abitur? Reicht es da nicht, wenn der Junge studiert? Wozu braucht das Mädel das Abitur? – Und so kam mindestens einmal im Jahr – darauf konnte ich wetten – meine Mutter vom Elternabend heim und erklärte mir, dass Herr X und Herr Y dringend dazu raten, dass ich mich als Mädchen (!) doch besser für den Mittleren Bildungsweg entscheide. – Die „wohlmeinenden“ Worte von Herrn X klingen noch heute in meiner Erinnerung nach: „Es reicht doch, wenn Ihr Sohn das Abitur macht. Für das Mädchen wäre es bedeutend sinnvoller, dass sie einen guten Realschulabschluss macht. Sie kann dann ja Krankenschwester werden, einen Arzt heiraten, Kinder bekommen und auch so Karriere machen.“

      „Brrrrr!“ – Diese Worte haben mich sowas von verletzt. Was glaubt der Mann? – Nur weil ich ein Mädchen bin? Nie und nimmer lasse ich mich darauf ein. Und so hat er mit seinen Worten genau das Gegenteil erreicht. Mein Kampfgeist war geweckt. Auch wenn es mir nicht immer leichtfiel, aber so nicht! – Es begann zwar eine harte Zeit. – Mein Spaß an der Schule war größtenteils vorbei, aber einfach nur so die Segel streichen, das wollte ich definitiv nicht. Die Frage stellte ich mir erst gar nicht. Ein weiterer „Lieblingssatz“ einiger Lehrer während meiner eigenen Schulzeit war: „Warum kann es dein Bruder, warum kannst du es nicht?“ – Gemeint war hier die Bühnenpräsenz meines Bruders. – Sein Selbstbewusstsein. Sein Selbstwertgefühl. Die Sicherheit, mit der er sich zeigte und musikalisch brillierte.

      Für ihn war es selbstverständlich, sich hinzustellen und einfach zu musizieren. Anders bei mir. Obwohl ich bei jedem Mal Vorsingen wusste, dass ich die Bestnote bekam, war es ab der Pubertät kein Leichtes für meinen Lehrer, mich zum Vorsingen zu bringen. Alphabetisch vorgehen und mich dann unter „M“ für Merkl aufrufen, das ging ganz und gar nicht. Bereits beim Buchstaben „E“ schlug mein Herz so sehr, dass ich glaubte, irgendwo im Raum eine Trommel zu hören. Doch dieser Lehrer – ihm dankt noch heute mein jugendliches Herz – war äußerst einfallsreich. Für ihn kam einfach schon nach dem „D“ das „M“, was dann dazu führte, dass ich vollkommen irritiert war, weil ich das Alphabet im Geiste runterbetete und nicht verstand, warum jetzt schon das „M“ zum Singen aufgerufen war. Doch nach diesem anfänglichen Schreck entspannte ich mich und sang. Was für eine glorreiche Idee. – Zum Glück hatte ich also auch Pädagogen dieser Art. Ging es schulisch gesehen also nicht nur darum, was ich für mich alleine in dem einen oder anderen Fach zu leisten vermochte, so wurde ich schon von Anfang an mehr oder weniger bewusst stets mit den Leistungen meines Zwillings verglichen. Und das war für mich kein Spaß. Egal, was ich tat: Er war mir immer eine Nasenlänge voraus. Wo ich bestenfalls den Fleiß und den Ehrgeiz besaß, hatte er das von Gott gegebene Talent und einen Charme, mit dem er sämtliche Frauen- wie Männer-Herzen bestach. Ich hingegen fühlte mich nur über all die Jahre hinweg (das waren immerhin neunzehn Jahre) als zweite Garnitur.

      Was für mich damals ebenfalls schwer war, dessen war ich mir aber