Westend 17. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839343
Скачать книгу
was ihr wo hinmalt. Ich halte euch keine Standpauken, dass das Sachbeschädigung und illegal ist und hier vor allem saugefährlich mit den ganzen Zügen. Im Gegenteil. Ich bin echt positiv überrascht, dass ihr die Polizei gerufen habt, statt abzuhauen. Danke. Ganz im Ernst.« Die beiden Jungs grinsten stolz.

      »Das war für euch bestimmt ganz schön hart. So eine Leiche da hängen zu sehen …«

      Louis, der Kleinere, zuckte mit den Schultern. »Nö. So hab ich schon meinen Opa gesehen. Der hat sich nämlich aufgehängt. Da war ich zehn.«

      Pfeffer zog erstaunt die Augenbrauen hoch und gab ein »Oh« von sich.

      »Nix oh. Ich mochte ihn nicht besonders, den Alten. Hat mich nicht groß geschockt.«

      »Dann ist gut.« Pfeffers Stimme glitt eine Tonlage tiefer und wurde schneidend sachlich. »Ich muss euch allerdings dringend darauf hinweisen, dass es strafbar ist, ohne Genehmigung einen Polizeieinsatz zu filmen oder zu fotografieren. Und dann das Ganze noch irgendwo online zu stellen.« Er sah den beiden Jungs abwechselnd fest in die Augen. Benno senkte den Blick.

      »Ich werde euch nur dieses eine Mal auffordern, eure Fotos und Videos von dieser Aktion sofort zu löschen. Alle. Ausnahmslos alle. Und falls ihr es schon irgendwo auf Facebook oder YouTube oder Flickr oder wo auch immer gepostet habt, löscht es auch dort. Sofort. Sonst wirds teuer für euch oder eure Eltern. Richtig teuer.«

      »Ja, schon klar«, sagte der Größere gedehnt. Beide wischten und drückten auf ihren Smartphones herum.

      »Auch auf …«, murmelte Louis.

      »Klar, Mann, hast doch den Kriminalkommissar gehört«, sagte Benno mit hektisch geröteten Wangen. »Die haben doch unsere Adressen …«

      »Kriminalrat«, sagte Pfeffer.

      »So, zufrieden?«, fragte Benno schließlich und hielt Pfeffer das iPhone hin.

      »Danke euch.« Pfeffer drehte sich zum Gehen. »Wann geht die Schule los? Um acht? Da habt ihr noch ein bisschen Zeit. Meine Kollegin kümmert sich gleich um euch und wird eure Aussagen protokollieren.«

      »Aber die ist doch schwanger«, sagte Benno erstaunt.

      »Ja und? Ach, ich bin gerade auf dem Weg zum ZOB. Soll ich euch einen Kaffee oder so von drüben mitbringen? «

      »Voll porno«, sagte der Kleinere und strahlte. »Wenn der Kollege …«, er deutete mit dem Kopf auf den rauchenden Uniformierten, »uns dann noch eine Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt. Wäre klasse. Doppelter Espresso mit Zucker bitte. Danke.«

      »Und ich nen Caramel Light Frappuccino …«, meinte Benno ernsthaft.

      »Also einen Kaffee mit Milch und Zucker«, antwortete Pfeffer trocken.

      »Vollspast«, flüsterte Louis.

      »Aber ich mag den Caramel …«

      »Ach, halt die Klappe.«

      »Selber Klappe, selber Vollspast.« Benno äffte Louis nach: »Wenn der Kollege uns dann noch ne Fluppe spendiert, ist das Frühstück perfekt …«

      03 Arslan hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Wieder einmal. Nicht nur, dass ständig Züge vorbeirumpelten, es waren vor allem die Ratten, die ihn nicht schlafen ließen. Er hatte sie gesehen. So groß und fett, wie er sich Ratten immer vorgestellt hatte, waren sie zwar nicht, aber dennoch. Und so viele waren es auch nicht. Aber es reichten schon die zwei, drei, die er gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine einzige gewesen, die mehrfach vorbeigekommen war. Aber Arslan verdrängte den Gedanken. Wo zwei, drei waren, waren bestimmt auch zwanzig, dreißig. Arslan fürchtete sich davor, einzuschlafen und dann von den Tieren angeknabbert zu werden. Zwar hatte ihm Tayfun versichert, das sei nur Geschwätz, denn Ratten würden vor Menschen Angst haben, doch was wusste Tayfun schon. Der musste ja nicht in einem selbst gebastelten Zelt an einem Bahndamm übernachten. Nein, Tayfun hatte weiterhin sein warmes, weiches Bett und ein Dach über dem Kopf.

      Und dann die ständige Angst, entdeckt zu werden. Was, wenn jemand kommen würde mitten in der Nacht? Was, wenn ein Obdachloser ihm diesen Platz streitig machen würde? Neben seinem Zelt stand ein leeres, backsteinernes Bahnwärterhäuschen, oder was das auch immer früher gewesen sein sollte. Eingeschlagene Fensterscheiben, bröckelnder Putz und Graffiti. Arslan hatte sich zuerst darin sein Nest einrichten wollen, doch dann die Spuren von mehr als einem anderen Bewohner gefunden. Faulige Matratzen, Müll und kaputte Schlafsäcke. Zwar war in den beiden letzten Nächten niemand aufgetaucht, dennoch wollte Arslan mögliche Scherereien um den Schlafplatz vermeiden und hatte sein Zelt aus alten blauen Planen hinter dem Häuschen aufgestellt. Zuvor hatte er die Umgebung genau abgesucht, um nicht zufällig in die Exkremente seiner Vorgänger zu treten oder sich sich darin zu betten.

      Arslan hasste das Gedankenkarussell, das ihn wach hielt.

      Und dann auch noch dieses Geschrei. Es kam immer wieder vor, dass die Betrunkenen unten an der Straße herumgrölten oder sich lautstark verabschiedeten, wenn sie aus der »Zur Gruam« getorkelt kamen. Arslan kannte die Kneipe gut. Er war hier auch schon mehr als einmal abgestürzt. Doch nun machten ihm die Stimmen Angst. Vor allem, da es sich offenkundig um eine Frauenstimme handelte, die nun laut um Hilfe rief. Und die Stimme kam näher! Das bedeutete, dass diese Frau (und womöglich Männer, die sie bedrohten) die kleine Mauer unten an der Thalkirchner Straße hochgeklettert war und nun den Trampelpfad hinauf zu den Gleisen folgte.

      »Verpiss dich!«, schrie die Frauenstimme. »Lass mich los! Nein!«

      »Stell dich nicht so an!«, brüllte eine Männerstimme.

      »Nein! Du tust mir weh! … Du Scheißarsch! Nein!«

      »Halt endlich deine blöde … Aaaarghhh … Scheißdrecksschlampe! Das wirst du büßen!«

      »Nein!«

      Arslan hörte das Getrappel der Schritte, hörte zurückschnalzende Zweige, hörte die Schläge und das Reißen von Stoff. Und die Frau schrie immer nur »Nein!«. Schließlich hielt es Arslan nicht mehr aus. Er befreite sich aus seinem Schlafsack, schlüpfte in seine Schuhe und krabbelte aus dem Zelt. Er spähte um die Ecke des Bahnwärterhäuschens und sah im fahlen Morgenlicht einen Mann und eine Frau zwischen den Büschen im Clinch. Sie waren beide jung, höchstens Anfang zwanzig. Er zerrte an ihrer dünnen Sommerjacke, die nur noch in Fetzen an ihr hing. Sie schlug und trat nach ihm, verfehlte ihn aber meist. Beide hatten erhebliche Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, weil sie betrunken oder auf Droge oder beides waren. Schließlich warf er sich auf sie und zerriss endgültig ihre Jacke. Er drückte ihr seinen Ellbogen auf die Kehle und keuchte: »So, du Dreckstück, jetzt kriegst dus!« Er kniete breitbeinig über ihr.

      Arslan sprintete von hinten heran und trat dem Kerl mit Schwung zwischen die Beine. Vor Schmerz jaulend wälzte sich der Mann zur Seite und presste die Hände in den Schritt. Arslan trat ihm in den Magen.

      »Ey, was soll der Scheiß!«, quiekte der Kerl, Sabber lief ihm aus dem Mund.

      »Lass die Frau in Ruhe«, sagte Arslan laut und bestimmt.

      »Ey, das geht dich doch gar nix an«, wimmerte der Kerl. »Scheiße, tut das weh.« Mühsam robbte er herum und versuchte, auf die Beine zu kommen.

      »Verpiss dich«, sagte Arslan und gab dem Kerl, der schwankend zum Stehen gekommen war, einen Schubs, dass der vornüber in den nächsten Busch kippte und schließlich den kleinen Abhang hinunter zur Thalkirchner Straße kullerte.

      »Bist du okay?«, fragte Arslan besorgt die junge Frau, die sich aufgesetzt hatte und zitternd ihre Knie mit den Armen umschlang.

      »Hab dich nicht gebeten, mir zu helfen, oder?«, giftete sie am ganzen Leib schlotternd.

      Arslan runzelte die Stirn. »Äh, ’tschuldigung? Hab ich da was missverstanden?«

      »Allerdings«, raunzte sie und strich sich die rosa gefärbten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte ein Lippenpiercing, an dem sie hektisch herumkaute.

      »Der Scheißkerl wollte dich vergewaltigen«, sagte Arslan,