»Servus, Polo«, grüßte Janko. Das gelbe Neonlicht ließ seinen Teint noch ungesünder wirken, wie er zwangsläufig feststellen musste, denn direkt gegenüber dem Eingang hing ein großer Spiegel.
»Servus, Janko.« Polo unterbrach sein Computerspiel und nickte dem Jungen zu. Polo hieß eigentlich Hans-Günther, aber mit der Pension hatte er auch den Namen übernommen. »Wie immer?«
Janko nickte. Polo wuchtete sich von seinem Drehstuhl auf, fischte einen Schlüssel vom Schlüsselbrett, das einst mit dunkelgrünem Samt bezogen gewesen sein musste.
»World of Warcraft?«, fragte Janko, nur um etwas zu sagen. Computerspiele interessierten ihn nicht sonderlich. Aber er wusste, dass Polo süchtig danach war.
Polo nickte. »Nebel von Pandaria. Level 90 ruft!«
Janko lächelte unbestimmt. »Er zahlt.« Janko deutete mit dem Kopf Richtung Straße.
»Nix.« Polo sah zwar aus wie eine fette Unke, konnte aber für seine Leibesfülle erstaunlich schnell sein. Er schlängelte seine Massen in Windeseile um den kleinen Tresen herum und packte Jankos linken Arm. »Wennst dir ein kostenloses Bett schnorren willst, schleich dich. Gezahlt wird im Voraus.«
»Versuchen kann mans ja mal.« Janko grinste schief und schob die Kapuze nach hinten. Polos fettige Haare, die sich über den Hemdkragen wellten, müffelten unangenehm. Es war nicht das Einzige an Polo, das müffelte. Janko drehte sich weg. »Aber im Ernst, da kommt noch jemand.« Er wühlte zwanzig Euro hervor und gab sie Polo.
»Siehste, geht doch.« Polo brummte zufrieden, watschelte zurück und wuchtete sich auf seinen alten Bürostuhl, der ein ungutes Ächzen von sich gab. »Eine Stunde. Wenn jemand nach dir fragt, schick ich ihn rauf.«
»Kennst ihn eh schon. Der spießige Beamtentyp.«
»Sind sie das nicht alle?«, fragte Polo und widmete sich wieder seinem Computer.
»Hey, wart mal, Kleiner«, rief Polo den Burschen zurück, der sich anschickte, die Treppen hinaufzusteigen. »Du kennst doch Tayfun …«
»Nö«, antwortete Janko wie aus der Pistole geschossen. Zu schnell. Natürlich kannte er Tayfun, aber das wollte er gegenüber Polo nicht zugeben. Janko stieg wortlos die Treppen hinauf. Vorgestern hatte ihn ein älterer Türke angesprochen. Einfach so. War zu ihm hingekommen, direkt und offen. Dass das kein Freier sein konnte, war Janko sofort klar gewesen. Der Türke, ein untersetzter Mann mit Schnauzbart und Halbglatze, hatte ihm das Foto eines aufgeweckt in die Kamera strahlenden Burschen um die achtzehn gezeigt und Janko gefragt, ob er den kenne oder schon mal gesehen habe. Janko hatte verneint. Der Türke hatte sich höflich bedankt, war weitergegangen und hatte zielsicher den nächsten Stricher angesteuert, um ihm das Foto zu zeigen. Janko hatte sein Smartphone gezückt und Tayfun sofort eine Nachricht geschickt, dass jemand unterwegs sei, der nach Arslan suchen würde.
»Hihihi«, gackerte Voitl immer noch, als die Schiebetür des alten Ford-Transporters ins Schloss krachte.
»Jetzt krieg dich wieder ein, Valentin!«, knurrte Boro. Immer, wenn er wirklich sauer war, nannte er Valentin beim vollen Namen. »Noch unauffälliger gehts wohl nicht? Oasch!«
»Der … der hat geschaut wie ein Fräckl«, prustete Voitl. Er sprach »Fraggle« wie »Fräckl« aus. »Das hättest du nicht sagen dürfen, hihihihi. Ein Fräckl!«
Boromir zuckte mit den Schultern. »Du bist so ein Oasch, Voitl. Der hat ja auch geschaut wie ein Fraggle, als du ihm gesagt hast, wer uns schickt.«
Mit erneutem »Hihihi« versuchte Voitl den dümmlichen, stets überrascht wirkenden Gesichtsausdruck eines Fraggles zu imitieren, jenen kunterbunten Puppen mit riesengroßen Kulleraugen, die als Ableger der Muppets in den 1980er Jahren das Kinderfernsehen erobert hatten. Dann fiel Voitls Blick auf den Asphalt. Er bückte sich und hob ein ledernes Notizbuch mit Verschlussgummi auf. Er blätterte neugierig darin herum. Die meisten Seiten waren noch leer. »Mei, das ist schön«, sagte Voitl, während er die Beifahrertür öffnete und sich auf den Sitz schwang. »Hat unser Fräckl … hihihi … hat der wohl grad verloren. Na, ich behalts. Schönes Bücherl.«
Boro stieg auf der Fahrerseite ein. Bevor er den Zündschlüssel umdrehte, sah er nach hinten in die Ladefläche. Der Mann, den sie hineingeschubst hatten, stöhnte.
»Der kommt langsam zu sich«, sagte Boro und ließ den Wagen an. »Wir sollten uns beeilen.«
»Ich dachte, er soll alles mitkriegen«, antwortete Voitl.
»Wer sagt denn das?« Boro parkte aus.
»Na, wer wohl?«
»Nein, hat er nicht gesagt.«
»Schade. Hab mich schon drauf gefreut, was der für ein Gesicht macht, wenn wir …« Voitl wurde wieder von einem Kicheranfall geschüttelt, er riss dramatisch die Augen auf und prustete: »Wie ein Fräckl. Da hätte er bestimmt noch fräckeliger geschaut. Und weißt du noch, die Allwissende Müllhalde … Die hat ausgeschaut wie meine Großtante Mitzi …«
»Voitl, wir unterhalten uns jetzt nicht über Puppen im Fernsehen«, sagte Boro bestimmt und bog in die Schillerstraße ein.
»Mit dir macht das in letzter Zeit auch keinen richtigen Spaß mehr«, maulte Voitl. »Ich hab neulich im Fernsehen gesehen …«
»Du hast immer was im Fernsehen gesehen«, sagte Boro. »Du schaust einfach viel zu viel fern, Oasch. Konzentrier dich wenigstens einmal! Wir haben … Scheiße, kannst ned schaun, du Funzn!« Boro trat voll auf die Bremse, als eine ältere Frau sturzbetrunken, ohne auf den Verkehr zu achten, plötzlich auf die Straße wankte.
»Die …«
»Halt einfach mal dein Maul, Valentin.« Boromir bog in die Schwanthalerstraße ein und schaltete das Radio an. Wie sehr ihm doch sein Partner auf die Nerven ging. Gewiss, man musste kein Genie sein, um die Jobs zu erledigen, die sie zu erledigen hatten, aber ein bisschen mehr IQ, ein bisschen weiterer Horizont dürfte es schon sein. Voitl gehörte zu jenen Menschen, die im Fernsehen zwischen echter Dokumentation und Scripted Reality, wenn unbegabte Laiendarsteller holprige Texte improvisierten und so taten, als wäre das das echte Leben, nicht unterscheiden konnten. Er hielt schlecht gemachtes Billigfernsehen wie Berlin – Tag & Nacht und Kommissare im Einsatz oder die Gerichtsshows für Dokus. Regelmäßig berichtete er Boromir, was sich im Fake-TV skandalöses ereignet hatte und regte sich ernsthaft auf oder amüsierte sich darüber. Besonders hatte es Voitl eine Nathalie angetan, die »soooolche Möpse« und offenbar den halben Körper »voll geil« zutätowiert hatte. In welchem Format diese Nathalie mitspielte, hatte Boro nie herausgefunden, es interessierte ihn auch nicht im Ansatz. »Du bist so brunzdumm«, hatte Boro früher immer gesagt, dann hatte er es irgendwann aufgegeben, denn Voitls Einfalt hatte mitunter auch Vorteile. Er hinterfragte selten etwas und wenn, dann eben so brunzdumm, dass Boro es bei ebenso dummen Antworten belassen konnte.
Sie hatten inzwischen die Landsberger Straße erreicht und bogen rechts ab Richtung Hackerbrücke. Außer einem einzelnen Radfahrer ohne Licht, der auf dem Gehsteig fuhr, war niemand unterwegs. Boro hielt am Beginn der Hackerbrücke. Die gusseisernen Bögen hoben sich schwarz gegen den Nachthimmel ab und warfen dank der gelben Straßenlaternen ein Muster auf den Gehweg.
»Du steigst hier mit unserem Freund aus und wartest auf mich.«
»Vielen Dank auch«, knurrte Voitl, während er sich damit abmühte, den stöhnenden Mann von der Ladefläche in eine halbwegs aufrechte Position am Bordstein zu wuchten. Wankend standen die beiden schließlich da. Boro wendete auf der Straße und parkte den Transporter ein paar Meter weiter auf dem Vorplatz direkt vor der Fußgängerrampe, die hinunter zu den Bahngleisen führte.
»Packmas«, sagte Boro und half Voitl, den schwer atmenden Mann zu stützen. Er zog dem Mann die verrutschte Schiebermütze zurecht. Das Trio wankte ein paar Schritte Richtung Brückenmitte. Ein Auto näherte sich. Boro und Voitl drehten sich mit ihrer Last so, dass sie über die Brüstung Richtung Hauptbahnhof schauten und der Autofahrer nur ihre dunklen Silhouetten von hinten