Westend 17. Martin Arz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Arz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783940839343
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nicht bemerken. Und wenn schon … Das Auto fuhr vorbei.

      »Schön, unser München«, sagte Voitl und starrte auf die Lichter in der Ferne.

      »Drehst du jetzt völlig durch?«

      »Ist doch schön. Man sieht selten die Frauenkirche bei Nacht so schön.« Noch bevor Boro etwas erwidern konnte, hatte Voitl nahtlos das Thema gewechselt. »Erinnert mich immer an den Eiffelturm, die Brücke hier.«

      »Als ob du jemals den Eiffelturm gesehen hättest«, ätzte Boro.

      »Was weißt du denn schon.«

      »Dass du nie aus München rausgekommen bist, weiß ich zum Beispiel«, antwortete Boro. »Jetzt sag, wo du das Seil befestigt hast.«

      »Gleich da.« Die drei Männer wankten zu der ein paar Meter weiter entfernten Stelle.

      »Bist du deppert?«, fragte Boro. »Hier? Wie sollen wir ihn dann über die Absperrung bringen?« Er deutete auf die Brüstung. Das ungefähr brusthohe Geländer aus Gusseisen verfügte über eine schräg nach oben führende Erweiterung aus massiven Stahlpfosten mit Drahtgitter, die verhindern sollten, dass jemand über das Geländer stieg und sich auf die Bahngleise stürzte.

      »Werfen«, antwortete Voitl trocken.

      »Werfen«, echote Boro verdutzt. »Dann landet er doch in den Hochspannungsleitungen.«

      »Nicht hier. Schau. Freier Fall.«

      Die beiden ließen den Mann in ihrer Mitte los und lehnten ihn gegen das Geländer. Der Mann stöhnte und fasste sich an den Kopf.

      »Na, jetzt ist er doch wieder unter uns«, sagte Voitl, während er sich bückte und das Seil, dessen eines Ende an einem Pfosten fest verknotet war, hochhob. Er selbst hatte das Seil vor nicht einmal einer Stunde dort angebracht. Mit geübten Handgriffen knüpfte er das lose Ende zu einem Henkersknoten mit neun Rundtörns.

      »Wie die neun Todsünden«, murmelte er dabei.

      »Das sind nur sieben«, raunte Boro verärgert.

      »Was?«

      »Die Todsünden. Es sind sieben, nicht neun. Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit. Das weiß ich gewiss! Ich war in einem katholischen Internat. Das und noch vieles mehr haben sie mir da in voller Barmherzigkeit eingeprügelt.«

      »Du bist doch Moslem!«

      »Ja, und?«

      »Ganz früher waren es mal neun! Das hat meine Großmutter selig noch gewusst. Ruhmsucht und Trübsinn gehörten noch dazu«, antwortete Voitl. »Und ein gescheiter Henkersknoten gehört sich mit neun Rundtörns.«

      »Was … was ist denn los?«, stammelte der dritte Mann und strich sich fahrig über die Halbglatze. Er konnte kaum die Augen öffnen und sich immer noch nicht wirklich aufrecht halten. »Wo bin ich?«

      »Am Ende«, antwortete Boro.

      »Hihihi«, gackerte Voitl los und legte dem Mann die Schlaufe von hinten um den Hals. Verwirrt sah der Mann an sich hinunter. »Am Ende. Der war gut.«

      Boro und Voitl sahen sich um. Niemand unterwegs auf der Hackerbrücke. Dann packten Boro und Voitl den untersetzten Mann – einer an den Schultern, einer an den Füßen. Der Mann war etwas korpulent, aber klein und daher nicht allzu schwer. Und er war vor allem noch zu benommen, um sich wehren zu können. »Ich … ich werde alles tun …«, stotterte der Mann.

      »Zu spät«, sagte Voitl.

      »Eins und zwei und drei«, zählte Boro. Sie holten Schwung und warfen den Mann in einem nicht sehr hohen Bogen über das Geländer, dessen Erweiterung und die augenfälligen gelben Schilder, auf denen schwarze Blitze um »Vorsicht, Lebensgefahr!« zuckten.

      Als sich das Seil straffte und sich der halbglatzige Mann das Genick brach, waren Boro und Voitl bereits auf dem Weg zum Wagen.

      In Zimmer 365 in der Pension Polo hatte sich Janko etwas Crystal Meth, das er, wie so viele, nur »Ice« nannte, reingezogen. Er hatte diesmal viel gekauft und verstaute den Rest in der kleinen Innentasche, die er sich in den Bund seiner Jeans selbst eingenäht hatte. Sein Scherzkeks von Dealer hatte den Stoff mit Lebensmittelfarbe blau gefärbt, was die meisten seiner Kunden witzig fanden, denn das war eine Reminiszenz an die TV-Serie »Breaking Bad«, in der der Protagonist ein besonders reines Crystal Meth herstellte, das tiefblau war. Nur kannte Janko die Serie nicht und die Farbe seines Stoffs war ihm egal. Hauptsache, er war breit. Er legte sein dünnes Goldkettchen mit dem Kruzifix ab. Janko hatte im Leben nie viel Gutes erlebt und sein Gebete waren bisher unerhört geblieben, dennoch küsste er den Gekreuzigten jedes Mal, wenn er die Kette an- oder ablegte, so wie es ihm seine Großmutter gezeigt hatte. Er zog sich bis auf die Unterhose aus und ging ins winzige Bad, das eindeutig schon länger nicht mehr gründlich geputzt worden war. Sich ein wenig frisch machen. Der Typ, auf den er wartete, war zwar sein vierter Kunde heute, aber der erste, der ein Zimmer zahlte. Und zuletzt hatte Janko am Vortag in der WG geduscht.

      Als Janko aus dem Bad kam, saß sein Freier schon verkrampft auf der Bettkante.

      »Hallo, alles gut?«, fragte Janko und wollte dem Mann einen Kuss auf die Wange geben, doch der zog den Kopf weg.

      »Lass uns erst den finanziellen Teil erledigen«, sagte der Mann und zog seine Brieftasche hervor. Seine Stimme wurde plötzlich laut: »Fünfzig Euro. Mit allen Extras und ohne Gummi.«

      »Stimmt.« Janko streckte die Hand aus, um den Geldschein entgegenzunehmen. Er bemerkte nicht, dass sein Kunde die Zimmertür nur angelehnt hatte und zwei weitere Männer leise den Raum betraten.

      02 Die eben noch wärmende Nähe wurde jäh unterbrochen, als Max Pfeffer hochschnellte und nach seinem Handy tastete, das Geräusche wie ein Stahlwerk, in dem Kesseldampf abgelassen wird, von sich gab. Dann sagte eine Männerstimme »Okay, ready, let’s do it« und der industrielle Maschinensound des »Being Boiled«-Intros von Human League stampfte rhythmisch durch das Schlafzimmer, bis Pfeffer ranging.

      »Ja«, bellte er ins Telefon, während Tim sich stöhnend umdrehte und seine langen Arme um Pfeffers Hüften schlang.

      »Deshalb müsst ihr mich wecken?«, sagte Pfeffer ärgerlich. Tim biss Pfeffer spielerisch in die Hüfte.

      »Gut, verstehe … Ja … Ist okay. Ich komme gleich.« Pfeffer legte auf.

      »Du solltest dir endlich mal einen dezenteren Klingelton zulegen«, grummelte Tim, das Gesicht halb im Kissen. »Oder warte wenigstens, bis der Gesang mit ›Listen to the voice of Buddha‹ kommt, dann wacht man omtechnisch besser auf.«

      »Ich brauch nen Klingelton für die Arbeit, den ich überall raushöre und von dem ich schnell aufwache«, antwortete Pfeffer knurrig und kuschelte sich noch kurz zu Tim.

      »Haben wir wieder eine Leiche, Maxl?«

      »Wir haben.«

      »Und die brauchen dich bei der Leiche, weil ja sonst keiner Mörder finden kann?«

      »Erraten.«

      »Wie spät isses denn?«

      »Gleich halb fünf.«

      »Scheiße. Na gut, dann kann ich ja auch gleich aufstehen.«

      »Spinnst du? Du musst nicht wegen mir …«

      »Geh duschen, Herr Oberkriminaldirektor. Ich mach Kaffee und hab auch einen vollen Tag vor mir. Schadet gar nix, wenn ich mal früh aufstehe.«

      »Wie du meinst, mein Schokocrossie.«

      »Wow, der ist neu. Und so gar nicht rassistisch.« Mandelaugen funkelten, weiße Zähne blitzten und Sommersprossen tanzten auf Tims Kupferteint – und Max Pfeffer wusste wieder, ohne es wirklich jemals vergessen zu haben, warum er sich damals in diesen exotischen Hünen von der niederländischen Karibikinsel Curaçao verliebt hatte. Tim de Fries, der sich selbst immer als »holländische Kolonialware« bezeichnete, weil in seinen Adern das Blut fast aller Völker des einst gigantischen niederländischen