»Wichtig ist momentan, dass die Öffentlichkeit aufs Äußerste sensibilisiert ist. Nur wenige hundert Meter Luftlinie von hier wurde im Westend Theodoros Boulgarides von diesen Neonazis ermordet und wenige hundert Meter Luftlinie in die andere Richtung findet momentan der Prozess gegen die letzte überlebende Täterin der rechtsextremen Terrorzelle NSU statt! Da schaut die ganze Welt drauf! Wir haben uns schon einmal bis auf die Knochen blamiert, weil wir die Dönermor… die Morde an ausländischen Mitbürgern falsch eingeordnet hatten. Das darf nicht wieder vorkommen, haben wir uns verstanden?«
»Ich habe das verstanden«, sagte Pfeffer lakonisch mit dem Anflug eines Lächelns. Er wusste, wie alle der Anwesenden, dass nur einer aus ihrer Gruppe bei den blamablen Ermittlungspannen zu den NSU-Morden beteiligt gewesen war: Oberstaatsanwalt Norbert Bauer.
Doktor Gerda Pettenkofer trat ihre Zigarette aus. »Da kommt der Kranwagen endlich! Ich fahr am besten gleich mit den Jungs rauf zu unserem Kunden, damit die nicht wieder irgendwelche Dummheiten mit ihm anstellen, bevor sie ihn runterbringen.« Die Medizinerin setzte ihren umfangreichen Leib in Bewegung und ging mit energischem Schritt zu den Kollegen, die den Transporter mit ausfahrbarer Arbeitsbühne von der Deutschen Bahn unter dem Erhängten in Position brachten. Oranges Licht zuckte von den Warnleuchten auf dem Fahrerkabinendach durch den Morgenhimmel.
Kriminaldirektorin Staubwasser sah der Pettenkoferin mit gespitzten Lippen und missbilligend gerunzelten Augenbrauen hinterher. Dann drehte sie sich zur Gruppe zurück. »Wie der Herr Oberstaatsanwalt bereits gesagt hat, scheint es so, als sei hier absolutes Fingerspitzengefühl gefragt.«
»Und warum hat sie dann ausgerechnet uns herbestellt?«, sagte Bella Scholz leise. Der Kommentar wurde vom »Rattattrattattrattatt« eines vorbeifahrendes Zuges geschluckt. Doch Max Pfeffer, der neben ihr stand, hatte es gehört und schmunzelte.
»Finden Sie meine Ausführungen so witzig, Kollege Pfeffer?«, fragte die Kriminaldirektorin spitz.
»Nicht doch«, antwortete Pfeffer, »ich habe nur an etwas gedacht, was mich zum Schmunzeln brachte.« Er verstand sich in der Regel gut mit seiner Chefin.
»Ach«, Oberstaatsanwalt Bauer mischte sich ein. »Vielleicht wollen Sie uns dann alle daran teilhaben lassen?«
»Nein«, antwortete Pfeffer gelassen.
»Zurück zum Thema, meine Herren.« Jutta Staubwasser versuchte, an ihrer blondierten, festbetonierten Frisur herumzutuffen. »Die Öffentlichkeit wird uns haargenau auf die Finger schauen, wenn wir es hier tatsächlich mit einer Art Hinrichtung eines Aus… eines … eines Mitmenschen mit Migrationshintergrund zu tun haben. Wir stehen zwar erst ganz am Anfang der Ermittlungen, aber Oberstaatsanwalt Bauer und ich sind uns einig, dass wir auf alles vorbereitet sein müssen. Darum wird es, sobald wir die Ergebnisse aus der Rechtsmedizin haben, eine Besondere Aufbauorganisation geben, von der wir schnellstmögliche Ergebnisse erwarten. Wie bereits gesagt, dürfen Fehler wie bei den NSU-Ermittlungen nicht mehr vorkommen. Dazu kommt dann noch die Pikanterie, dass einer der beiden Jungs, die die Leiche gefunden haben, Benno Althaus ist.«
»Ja, und?«, fragte Pfeffer.
»Benno Althaus!«, schnaubte der Oberstaatsanwalt ungehalten. »Mensch, denken Sie doch mal mit, Pfeffer. Der Sohn vom Zweiten Bürgermeister! Doktor Guido Althaus von den Grünen!«
»Ich bleibe dabei: Ja, und?«
Der Oberstaatsanwalt warf entnervt die Hände in die Höhe.
»Sie möchten, dass ich diese Sonderermittlungskommission leite?«, fragte Pfeffer ungerührt.
Jutta Staubwasser schmunzelte und sagte süffisant: »Wie nicht anders zu erwarten, denken Sie mit, Kollege Pfeffer. Ja. Ich habe Oberstaatsanwalt Bauer davon überzeugen können, dass Sie der richtige Mann dazu sind. Stellen Sie sich bitte schnell ein Team für eine Sonderkommission zusammen, damit Sie loslegen können, wenn die Rechtsmediziner fertig sind.«
»Wenn oder falls es sich um Mord und nicht um Selbstmord handelt«, sagte Hauptkommissarin Scholz.
»Richtig.« Die Kriminaldirektorin lächelte verbindlich. »Falls. So, und nun entschuldigen Sie mich bitte. Meine Anwesenheit dürfte sich hier erübrigt haben. Wir sehen uns im Büro.« Jutta Staubwasser verabschiedete sich und bemühte sich so damenhaft wie möglich über die Gleise und den Schotter zu stöckeln. Es fiel ihr nicht ganz leicht, denn das taubenblaue Kostüm, das sie heute gewählt hatte, hatte einen recht engen Rock, der ihre Schrittgröße drastisch einschränkte.
»Mich brauchen Sie ja auch nicht mehr.« Der Oberstaatsanwalt kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kriminalbeamten jovial die Hände und ging.
»Ich habs doch gesagt. Elefantenrunde.« Bella Scholz legte die Hände um ihren Bauch. »Denen geht der Arsch auf Grundeis. Nach den NSU-Morden. Und dann beginnt auch noch bald die Wiesn.« Sie sah hinüber zu dem orange blinkenden Transporter mit Arbeitsbühne. Der Teleskoparm war weit herausgefahren. Oben im Arbeitskorb konnte man zwei Männer in weißen Overalls erkennen, die den Toten aus der Schlinge befreiten. Bei ihnen stand Doktor Gerda Pettenkofer und notierte sich etwas.
»Eigentlich kannst du hier alleine weitermachen, oder?«, sagte Max Pfeffer. »Elefantenrunde ist zu Ende.«
»Schon klar, Chef.«
»Vergiss bitte nicht das Stellwerk, vielleicht haben die oben im Turm was gesehen. Ach, und natürlich den Busbahnhof. Haben die die ganze Nacht auf?«
»Ja, Chef.« Bella Scholz klang ungehalten. Er hatte gesagt, sie solle sich darum kümmern, also würde sie sich darum kümmern. Kontrollfreak.
»Okay. Kaffee? Ich hol uns drüben im ZOB noch einen Kaffee, dann sehen wir weiter.« Er deutete auf den Zentralen Omnibusbahnhof, der hinter der dunklen Silhouette des Stellwerkturms wie ein gestrandetes Ufo mit abgehacktem Hinterteil lag und bereits um diese frühe Uhrzeit hell erleuchtet war. »Du kannst ja in der Zwischenzeit … Wer hat eigentlich die Leiche gefunden? Wo ist dieser wahnsinnig wichtige Sohn?« Er sah sich um und machte zwei Jungs mit dicken Kapuzensweatern aus, die sich jenseits der Gleise an einer Betonmauer herumdrückten und eifrig mit ihren Smartphones herumhantierten.
»Weiß ich doch nicht«, antwortete Bella Scholz erstaunt, »bin auch erst mit dir gekommen.«
»Hab sie schon.« Pfeffer deutete zu den Jungs. Ein paar Meter neben ihnen stand ein uniformierter Beamter und rauchte. Die Betonmauer schien zu einem flachen, langen Schuppen mit bemoostem Dach zu gehören, der an die Böschung gebaut war. In der ganzen langen Mauer gab es nur eine einzige Tür. »Shit, was habe ich gesagt zum Thema gefilmte Aktionen, die dem Ansehen der Polizei schaden könnten?« Er lief zu den Jungs hinüber.
»Servus.«
»Servus.« Aufgeweckte, ziemlich spitzbübisch dreinblickende Augenpaare blitzten unter den tief in die Stirn gezogenen Kapuzen hervor. Die Burschen konnten höchstens sechzehn oder siebzehn sein und hatten etwas von überneugierigen Welpen. Pfeffer mochte sie sofort.
»Max Pfeffer, Kripo München. Und ihr seids?«
»Der Benno Althaus«, sagte der Größere und hielt Pfeffer wohlerzogen die Hand hin.
»Und der Louis Poletti.« Auch der Kleinere schüttelte Pfeffer die Hand.
»Passts auf, Buam«, sagte der Kriminalrat. »Ich brauch keine wilden Geschichten, warum ihr euch hier vor dem ersten Hahnenschrei auf dem Bahngelände herumtreibt, okay?« Er deutete auf die Rucksäcke am Boden. »Ihr wolltet hier taggen oder was auch immer sprühen.« Die beiden Burschen tauschten einen verschwörerischen Blick und bliesen synchron die Wangen auf. Pfeffer sah hinüber zum nächsten Brückenpfeiler und deutete auf das halbfertige Writing. »Gut, ich sehe, ihr hattet schon angefangen.«
»Wir?«, sagte Louis betont unschuldig.
»Das waren wir nicht!«, rief Benno empört.