Das Konzept der polyphonen Entwicklung von Bereichen ist hingegen meine Art zu definieren, was ich von Daniel Stern gelernt habe. Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, spricht Stern von der Entwicklung von Bereichen statt von Phasen (Stern 1985, 1990): Entwicklung impliziert nicht das Erreichen zunehmend komplexer Phasen, die ein Lernen in den vorangegangenen Phasen voraussetzen. Sie bildet sich vielmehr wie die Komposition einer Melodie heraus, zu der immer neue Motive (in der Gestaltsprache könnten wir sie »erworbene Kontaktmodalitäten« nennen) und Instrumente hinzukommen (mit anderen Worten: Fähigkeiten des Being-with, übertragen auf verschiedene Beziehungsmodalitäten, als würde dieselbe Musik von neuen Instrumenten gespielt, die zum Orchester stoßen) und die sich in eine neue, immer flexiblere und komplexere Harmonie verwandelt (Stern 1985; Tronick et al. 1978). Dieses neue Konzept wird der Komplexität der Entwicklungsprozesse gerecht und entspricht gleichzeitig dem ästhetischen Kriterium in der Gestalttherapie: Entwicklung impliziert keine Vergleichsmaßstäbe wie im Phasenkonzept (nach dem vorausgesetzt wird, dass das Kind spezifische Entwicklungsaufgaben oder -ergebnisse erreicht), sondern wird als Melodie betrachtet, die geschätzt und gefördert wird.
Eine gestalttherapeutische Entwicklungstheorie, die von einer Entwicklung der Kontaktmodalitäten im Hinblick auf die Reifung ausgeht (als seien die Kontaktmodalitäten eine Aneinanderreihung von Entwicklungsaufgaben für den Menschen, von der Konfluenz über die Retroflexion bis hin zur Fähigkeit, »vollständig« in Kontakt zu treten), setzt die synchrone Ebene der Beschreibung der Kontakterfahrung (wie in Perls / Hefferline / Goodman 2006) auf der diachronen Entwicklungsebene voraus. Die Beschreibung der Kontaktmodalitäten in einer Abfolge (Konfluenz, Introjektion, Projektion, Retroflexion usw.) mag tatsächlich zum epistemologischen Kontext des Kontakterlebens zwischen Organismus und Umwelt im Hier-und-Jetzt gehören. Dieser Kontext lässt sich nicht auf die Entwicklungsphasen des Kindes übertragen, kann jedoch in den Kontaktkompetenzen der PatientIn erinnert werden, in Form von Bereichen. Für uns wird der Bereich zum Erfahrungsbereich im Hinblick auf eine bestimmte Kontaktfähigkeit. Mit anderen Worten: Konfluenz, Introjektion, Projektion usw. können keine Entwicklungsphasen sein, sondern sind Kontaktmodalitäten, deren ein Kind fähig ist und die im Lauf des Lebens weiterentwickelt werden. Die TherapeutIn fragt nicht, auf welche Entwicklungsphase sich die Blockade einer PatientIn bezieht, sondern wie die aktuellen Fähigkeiten der PatientIn zu projizieren, zu retroflektieren usw. (die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben) sich zu einer Gestalt kombinieren, die jetzt von dem »In-Therapie-Sein« der PatientIn repräsentiert wird. Die Bereiche sind Kompetenzen einer intersubjektiven Erfahrung von Kontaktmodalitäten, die an einem bestimmten Punkt in der Entwicklung eines Kindes deutlicher sichtbar werden und die sich im Laufe des Lebens als autonome Fähigkeiten in gegenseitiger Interaktion herausbilden.
Mit anderen Worten: Entwicklung kann als Reise zur Komplexität von Kontakten verstanden werden und nicht als eine Progression von weniger reifen Stadien zu reiferen Stadien. Die Entwicklung ist wie eine Melodie, die zuerst von ein oder zwei Instrumenten gespielt wird. Nach und nach gesellen sich weitere Instrumente hinzu. Dadurch werden die Kontakte, die ein Mensch umsetzen kann, immer komplexer. Die klinische Aufgabe besteht nicht darin, die Entwicklungsreife eines Menschen zu beurteilen, sondern abzuschätzen, wie dieser Mensch mit der Komplexität seiner Wahrnehmungen umgeht.
Die zeitgenössische Psychopathologie4 sieht Verhalten in einem Kontinuum von Normalität an einem Ende bis zu hohen Schweregraden am anderen Ende. Wenn wir diese dimensionale Perspektive auf die Kontakterfahrung anwenden, können wir sagen, dass jeder Bereich von Spontaneität bis zu blockierter/fixierter Erregung reicht. Ich spreche lieber vom »Risiko«, das in jedem Bereich impliziert ist, wenn die Kontaktgrenze desensibilisiert ist. Dadurch können wir unser Augenmerk auf die Spontaneität richten, die beim In-Kontakt-Treten und in der polyphonen Präsenz der Bereiche immer präsent ist (und das ist es auch, was wir in unserer Rolle als PsychotherapeutInnen erkennen und fördern wollen).
Jeder Bereich beinhaltet die Fähigkeit, an der Kontaktgrenze vollständig anwesend zu sein, das Selbst und den/die Andere(n) auf differenzierte und sensible Weise wahrzunehmen, mit dem Mut, sich in der Unsicherheit der Kontaktsituation zu bewegen. Der Mensch ist an der Kontaktgrenze und hat die Fähigkeit, sich kreativ an die eigene Bewegung und die des/der Anderen anzupassen, kann also mit der Unsicherheit umgehen (man weiß nie, welche Bewegung der/die Andere oder man selbst als Nächstes machen wird) und immer wieder eine kreative Lösung finden, die das eigene Sein und das des/der Anderen voranbringt. Das im vorherigen Abschnitt beschriebene Beispiel vom Kind, das zum Dirigenten wird, erklärt dieses Konzept ganz deutlich: Die Fähigkeit des Kindes, ein »kleiner Therapeut« zu sein, ist eine spontane, natürliche Qualität, die bei Menschen jedes Mal zum Vorschein kommt, wenn sie in schwierigen Situationen eine kreative Lösung für das Being-with finden.
Die folgende Beschreibung will die Möglichkeit schaffen, das Verhalten des Kindes zu beobachten, ohne es Entwicklungsphasen zuzuordnen, sondern es als die momentane Gestalt zu betrachten. Diese Gestalt besteht aus einem Gewirr von Beziehungskompetenzen, die ihre eigene Entwicklung aufweisen.
Die gestalttherapeutische Entwicklungsperspektive findet nicht nur in diesem Konzept ihre optimale Entsprechung, sondern auch in der Vorstellung, die Beobachtung vom Kind auf das phänomenologische Feld auszuweiten, in dem es sich befindet. Mit anderen Worten: Die Melodie, die das Kind zu spielen lernt, ist wiederum Teil einer größeren Musik, Teil jener Melodie, die in dem phänomenologischen Feld geschaffen wird. Wie Frank schreibt (2001, 21): »[…] Kleinkinder [entwickeln] eine entwicklungs- und beziehungsorientierte Körpersprache. Beide Partner beeinflussen und formen das Erleben des/der Anderen.« Und weiter: »[…] Bewegungsmuster […] gehören weder zum Kind, noch zur Umwelt, sondern zum Beziehungsfeld«5 (ebd., 19 [Übers.: A. J. & R. K.]). Es ist keine Frage der Selbstregulation des Organismus (der traditionellen humanistischen Anthropologie zufolge, die eine individualistische Perspektive beibehält), sondern der Selbstregulation eines situationsbezogenen Kontaktfeldes. Das Kind und seine Eltern schaffen gemeinsam ihre Begegnung in einem Grenzgebiet, das die Gestalttherapie aus einer erlebnis- und verfahrensorientierten und phänomenologischen Perspektive ganz richtig als »Kontaktgrenze« bezeichnet. Aus diesem Grund findet Entwicklung – auch die körperliche Entwicklung – in einem phänomenologischen oder situationsbezogenen Feld statt. Die sich daraus ergebenden Lernzuwächse sind wie erlebnisorientierte Codes, die jeder Mensch in seine Art des Being-with im Hier-und-Jetzt einbringt.
Im Vergleich zur phasischen Perspektive liegt der Vorteil der entwicklungsbezogenen Sichtweise der Bereiche darin, dass sie die Komplexität der Situationen erfasst und dabei das momentane Gewirr von Faktoren in Betracht zieht. Diese Faktoren beeinflussen sich zwar gegenseitig, zeigen aber alle einen eigenen Entwicklungsverlauf. Auf diese Weise wird die Situation in ihrer ganzen Komplexität gewürdigt, statt sie auf das Muster einer Phase zu reduzieren. Wir können die Komplexität der individuellen Entwicklung besser berücksichtigen, wenn wir den gegenwärtigen Moment als transversale Ebene der Entwicklung unterschiedlicher Bereiche (s. Abb. 2) betrachten, die sich zu immer wieder neuen Verbindungen miteinander verweben und die Gestalt des Kontaktes im Hier-und-Jetzt entstehen lassen.
3.1 Der Bereich der Konfluenz. Die Fähigkeit des Being-with ohne die Wahrnehmung von Grenzen
Zum Zeitpunkt der Geburt6 entsteht Kontakt auf konfluente Art und Weise: Mutter und Kind erkennen einander intuitiv. Das Kind nimmt die Umwelt als Teil seiner selbst wahr (Stern 1990) und die Mutter ist sich ihrer Liebe zu ihrem Kind voll bewusst. Weil Konfluenz eine Kontaktmodalität ist, stellt sie die Fähigkeit dar, die Umwelt so wahrzunehmen, als gäbe es keine Grenzen, keine Abgrenzung zwischen der Umwelt und dem Organismus. Diese Fähigkeit bildet die Grundlage für Empathie und ist eine natürliche Qualität, die man in den Neurowissenschaften heute als verkörperte Empathie (»embodied empathy«) bezeichnet (siehe Gallese et al. 2006). Die Fähigkeit zur Konfluenz entspringt unserer fundamentalen Zugehörigkeit zur Umwelt (Philippson 2001). Stern et al. (2000) beschreiben die Kompetenz des Kindes, die Intentionen der Erwachsenen intuitiv zu erkennen und sie zum Abschluss zu bringen. Seine Beobachtungen, die er im Kontext seiner Kritik an Mahlers Theorie des primären Autismus (1968) formuliert, verdeutlichen