4. Die gestalttherapeutische Entwicklungsperspektive als klinische Evidenz
Das hier beschriebene Entwicklungsmodell hilft uns dabei, die klinische Evidenz der Vergangenheit im Hier-und-Jetzt des Kontakts zu erfassen. Wir können von einer »klinischen Evidenz der Entwicklungsprozesse« sprechen, um im Hier-und-Jetzt des Erlebens im therapeutischen Kontakt zu bleiben.
Es handelt sich um ein Modell, das die Tiefe der Oberfläche erklärt (Cavaleri 2003), jener Oberfläche, die unsere Sinne berührt und die wir wahrnehmen. Unser klinischer Bezugsrahmen ist tatsächlich nicht die Entwicklung der inneren Erfahrungen (von emotionalen Themen), sondern vielmehr die Entwicklung jener Kontaktprozesse, die das Kind bei seinen Bezugspersonen lernt und die später den Hintergrund seines Kontaktmusters als Erwachsener darstellen. Diese Muster kann man in der Therapie beobachten. Grundlegende Prozesse, die Interaktionen regulieren, finden nach Bebee / Lachmann (2002) ursprünglich auf non-verbaler Ebene statt und bleiben das ganze Leben über gleich. Die GestalttherapeutIn beobachtet nicht nur diese Muster, sondern versucht auch, das now-for-next (Spagnuolo Lobb 2012) zu erfassen, jene Intentionalität, die sich hinter dem gewohnheitsmäßigen desensibilisierten Kontaktmuster der PatientIn verbirgt. Da das gestalttherapeutische Modell all dies aufgrund dessen betrachtet, wie es an der Kontaktgrenze zwischen TherapeutIn und PatientIn passiert, impliziert es die Sicht des phänomenologischen Feldes. Aus dem phänomenologischen Feld, das aus der Kontaktmodalität der PatientIn und aus der Reaktion der TherapeutIn entsteht, ergeben sich Möglichkeiten, die Kontaktintentionalität der PatientIn bei ihrer spontanen Entwicklung zu unterstützen.
Abb. 3: Erregungen, Lebensfähigkeiten und Risiken der einzelnen Bereiche
Das Kontakterleben mit der Umwelt (und signifikanten Anderen) ist ein Schlüsselkonzept der Gestalttherapie, mit dessen Hilfe man versucht, die menschliche Natur zu verstehen (wir werden in und für Kontakt geboren und wachsen im Kontakt). Zugleich stellt es den hermeneutischen »Code« der Entwicklung, der Bewegung und der Beziehungsprozesse dar. Wie ich im Vorwort der italienischen Ausgabe von Franks Buch (Spagnuolo Lobb 2005d) geschrieben habe, ist der Körper der Bewusstheit jener Körper, der die Grenze des/der Anderen von dem Zeitpunkt an erlebt, wenn das Baby im Mutterleib zu treten beginnt, und der Beziehungsunterstützung aus der konkreten Erfahrung des Körpers-in-Kontakt aufbaut (z. B. in Berührung mit).
Mit anderen Worten: Die klinische Evidenz der Entwicklungsperspektive findet sich in den Worten der PatientIn und vor allem in ihrer körperlichen Erfahrung und der impliziten gegenseitigen Einstimmung im TherapeutIn-/PatientIn-Kontakt. Nehmen wir als Beispiel die phänomenologische Beschreibung, die Daniel Stern (2005, XII) von dem impliziten gegenseitigen Wissen in einer Sitzung im Vorwort des Buches Der Gegenwartsmoment gibt. Aufgrund von dieser meisterhaften therapeutischen Erzählung, die über jeglichen theoretischen Schemata steht, können wir vermuten, mit welchen Fragen der somatische entwicklungsorientierte Geist des Therapeuten aufwartet. Stern beschreibt Folgendes:
»Sie betritt das Behandlungszimmer und nimmt im Sessel Platz. Sie lässt sich von hoch oben hineinfallen. Rasch entweicht die Luft aus dem Sesselpolster, und danach dauert es noch einmal fünf Sekunden, bis es sich wieder aufgepumpt hat. Darauf scheint die PatientIn zu warten, doch unmittelbar bevor das Polster seinen letzten Seufzer ausstößt, schlägt sie die Beine übereinander und verlagert ihr Gewicht auf die andere Gesäßhälfte. Erneut entweicht Luft aus dem Kissen, und erneut pumpt es sich wieder auf. Wir warten, bis es soweit ist. Vielmehr: Sie wartet, sie lauscht auf das Geschehen im Polster, fühlt ihm nach. Ich war zur Arbeit bereit, seit sie hereingekommen ist, aber jetzt warte auch ich. Es ist schwer zu sagen, wann das Kissen in einen Ruhezustand zurückgefunden haben wird. Aber alles wartet. Ist ihr bewusst, dass sie wartet oder dass sie die Zeit anhält? Alles wartet darauf, dass sie zu sprechen beginnt. Ich habe das Gefühl, mich vorher nicht bewegen zu dürfen. Fast als sollte ich den Atem anhalten, um das Geschehen zu beschleunigen oder um besser beurteilen zu können, wann der Ruhepunkt erreicht ist und die Sitzung ›beginnen‹ kann. Als ich endlich den Eindruck habe, dass ihr Körper und das Kissen nun ›bereit‹ sind, dass das Rascheln und Sich-Einrichten ein Ende nehmen, beginne ich selbst, meine Sitzposition in meinem Sessel zu verändern und in Erwartung dessen, was da kommen wird, freier zu atmen. Doch meine Patientin lauscht noch immer dem leise verklingenden Geräusch nach und ist noch nicht wirklich bereit. Ihr Abwarten veranlasst mich, mitten in der Bewegung innezuhalten. Ich habe das Gefühl, wie ein Pantomime zur ›Statue‹ erstarren zu müssen. Es ist lächerlich. Und ich empfinde wachsende Verärgerung darüber, dass mein eigener Rhythmus so gravierend beeinträchtigt und kontrolliert wird. Soll ich es einfach weiterlaufen lassen? Soll ich es ansprechen? Nicht einmal im Traum käme ihr in den Sinn, dass wir soeben die zentralen Themen der Sitzung und ein wichtiges Thema ihres Lebens zur Darstellung gebracht haben.« (Stern 2005, 13)
Aus dem Oberflächenkontakt, der im Hier-und-Jetzt mit der PatientIn aufgebaut wird, erfasst der Therapeut Entwicklungsmuster, die er während der Sitzung bestätigt finden wird. Die PatientIn ist es gewöhnt, als ursprünglich kreative Anpassung in schwierigen Situationen auf dieses Muster des »abwartenden« Kontakts zurückzugreifen. Aus der Frage des Therapeuten: »Soll ich es einfach weiterlaufen lassen? Soll ich es ansprechen?« können wir auf eine spontane Ko-Beteiligung im Abwarten schließen. Der Therapeut merkt, dass er sich (wenn auch gegen Ende verärgert) an diesem Warten beteiligt, indem er die Kontaktgrenze ihrer Sitzung ko-kreiert. Die PatientIn fühlt, dass sie sich in einem Kontakt der Unsicherheit befindet (was sich im Gefühl des Therapeuten spiegelt, der auch unsicher ist, was er tun soll) und löst diese dyadische Unsicherheit durch Abwarten.9
Es wird interessant sein zu entdecken, welcher Bereich sich im therapeutischen Kontakt hauptsächlich zeigt (wird die PatientIn introjizieren, was die TherapeutIn sagt? Oder ihre Energie auf die TherapeutIn projizieren? Oder schweigend retroflektieren …). Es wird die TherapeutIn sein, die beim Eintreten in denselben Bereich die spezifische Unterstützung bietet, durch die die PatientIn zu einer neuen Wahrnehmung ihrer Kontaktgrenze (einer neuen Gestalt der Bereiche) gelangt. Die TherapeutIn wird gleichzeitig das sein, was ihr zugeschrieben wird, und außerdem eine neue »PartnerIn«, die die unterbrochenen Intentionalitäten unterstützt. Als Gestalttherapeutin erkenne ich mich selbst in dem Konzept wieder, das von Lichtenberg et al. (2000, 104) beschrieben wird, wenn sie sagen, dass die TherapeutIn »die an sie gerichtete Zuschreibung tragen muss« [Übers.: A. J.]. In der Sprache der Gestalttherapie kann dies als das übersetzt werden, was wir die »Ko-Kreation der Kontaktgrenze« nennen: Die TherapeutIn nimmt an der Kontaktmodalität teil, auf die die PatientIn zurückgreift (so gibt sie zum Beispiel Introjekte an einen Menschen, der die Modalität der Introjektion verwendet – siehe dazu das klinische Beispiel im nächsten Absatz), unterstützt aber auch das – und genau darin liegt die Kunst –, was von der PatientIn üblicherweise nicht genutzt wird, nämlich die Erfüllung der Kontaktintentionalität.
5. Ein klinisches Beispiel: Der verdinglichte Tod
Eine 57-jährige Patientin sitzt starr in dem Sessel, mir, der Therapeutin, gegenüber (Bereich der Retroflexion). Die Patientin lächelt höflich. Sie hat ihre Handtasche auf dem Schoß und hält sie ganz fest, als könne sie sich aus irgendeinem Grund nicht entspannen (Bereich der Projektion). Mir fällt auf, dass ihr Atem flach ist, und zwar so flach, dass sich ihre Haltung durch den Rhythmus des Ein- und Ausatmens nicht zu verändern scheint. Die Patientin nimmt alle meine Versuche wahr, sie zu beruhigen, ihre Reaktion lässt jedoch nicht erkennen, dass sie sich allmählich sicherer fühlt (Bereich der Introjektion). Meine Wahrnehmung an der Kontaktgrenze ist Verwunderung angesichts der extremen Verschlossenheit der Patientin, und ich fühle mich nicht fähig, ihre Reaktion als Angst zu akzeptieren und kodifizieren. Ich spüre ein Gefühl der Kälte an der Kontaktgrenze, die Unfähigkeit zu akzeptieren. Die Beziehungsmuster der Bewegung, meines und das der Patientin, sind gezwungen und zielen vielmehr darauf