Die kontextuelle Perspektive auf die Diagnose betrachtet die inneren und äußeren Unterstützungsquellen der PatientIn. Für die TherapeutIn stellen die Symptome die bestmöglichen Überlebensstrategien dar, die der PatientIn bis jetzt zur Verfügung standen. Die TherapeutIn erkundet die Rolle eines speziellen Symptoms, fragt nach, was es aufrechterhält, und ob die PatientIn noch auf andere mögliche Rollen zurückgreifen kann. Die Kooperation zwischen der diagnostizierenden TherapeutIn und der PatientIn ist dialogisch, wenn sie gemeinsam die diagnostische Beschreibung aus der kontextuellen Perspektive heraus ko-kreieren. Die TherapeutIn könnte ihre Interventionen auf die folgenden Fragen stützen: »Wie hat Ihnen Ihr Leiden oder diese spezielle Art der Beziehungsaufnahme, die Sie beschrieben haben, in Ihrem Leben geholfen? Woher kommt das? Was trägt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei? Und um welchen Preis?«
3.6.3. Die Ko-Kreation-Perspektive: Fokus auf die Regularitäten der Feld-Organisation
Aus der ko-kreativen Perspektive diagnostiziert die TherapeutIn die aktuellen Prozesse, die an der Kontaktgrenze ablaufen. Sie sieht nicht das Individuum, sondern vielmehr Ereignisse im »Zwischen«. Sie sieht keine Kausalität (nicht einmal die zirkuläre), sondern das Miteinander-verbunden-Sein aller gegenseitiger Einflüsse (zu denen auch die diagnostizierende TherapeutIn gehört). Die TherapeutIn klassifiziert weder sich noch die PatientIn mit irgendwelchen Bezeichnungen. Sie konzentriert sich auf den fortlaufenden Prozess der Ko-Kreation und erstellt eine Diagnose der Situation (Wollants 2012).
Ein Mensch wird als der sich ständig verändernde Prozess innerhalb von Beziehungen betrachtet. Der Prozess des »Selfing« (Parlett 1991), bei dem man sich durch den Kontakt mit der Umwelt organisiert, weist bestimmte Gesetzmäßigkeiten auf, die bei jedem Individuum anders sind. Diese Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation schaffen individuelle Einzigartigkeit, die an der Kontaktgrenze mit der Umwelt nicht nur in jedem einzelnen Moment inszeniert werden, sondern das ganze Leben hindurch. Die Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation der PatientIn treffen auf die Gesetzmäßigkeiten der Feldorganisation der TherapeutIn. Das gemeinsame Feld organisiert sich als eine Art Tanz, der aus der Interaktion der zwei ursprünglichen Choreografien entsteht und in dem auch ein paar neue, einzigartige Schritte auftauchen können (Jacobs 2008).
Die Diagnose ist ein Prozess, wenn die TherapeutIn durch ihr Erleben in der Lage ist, Muster zu erkennen und dadurch Unterschiede festzustellen (Yontef 1993). Die TherapeutIn nutzt die Erkundung der therapeutischen Beziehung, um eine Karte zu erstellen, auf der die Muster der Feldformation erkennbar werden, die die Beziehungen der PatientIn aufweisen. Die TherapeutIn erkundet und »kartiert«, welche Art von Kontakt PatientIn und TherapeutIn ko-kreieren, wie der Kontakt verläuft und welchen Gesetzmäßigkeiten er folgt. Sie untersucht, welche Muster der Feldorganisation in der Beziehung zwischen PatientIn und TherapeutIn auftauchen, welche Muster aus anderen Beziehungen der PatientIn hier zum Leben erweckt werden, wie die beiden interagieren und welche neuen Möglichkeiten der Feldorganisation entstehen können. Die TherapeutIn fragt: »Wie ko-kreieren diese PatientIn und ich die aktuellen Phänomene der Felder im Hier und Jetzt, in denen wir uns gemeinsam aufhalten?«
Die Phänomene, die aus der symptomatischen Perspektive als »Symptome« und aus der kontextuellen Perspektive als eine Art der Kommunikation betrachtet wurden, werden nun auf eine ganz andere Weise beschrieben. Anstatt z. B. den Patienten als »depressiv« zu bezeichnen oder eine »Depression« als einen Appell an die Familie der PatientIn zu werten, fragt die TherapeutIn jetzt: »Wie sind wir, die PatientIn und ich, im Hier und Jetzt gemeinsam depressiv?« Die TherapeutIn erkundet ihren eigenen Beitrag zu der Situation, in der die »Symptome« auftreten. Sie ist auch neugierig, welches Potenzial die therapeutische Beziehung im Moment bietet und stellt sich die Frage: »Was will sich gerade entwickeln, in dieser Situation und diesem Moment?« (Wollants 2008, 63).
Die TherapeutIn erstellt die diagnostische Hypothese dialogisch, in Kooperation mit der PatientIn. Die therapeutische Intervention könnte sich auf folgende Fragen stützen: »Erkennen Sie die Beziehungsprobleme, die Ihnen in Ihrem Leben Schwierigkeiten machen, auch hier in der Therapie, in unserer Beziehung? Wie, denken Sie, trage ich dazu bei? Was mache ich, dass sich diese Probleme wiederholen? Wie ko-kreieren wir das gemeinsam? Und was brauchen Sie von mir? Was müsste in unserer Beziehung für Sie passieren?«
Während der nächsten Sitzungen achtet Alice immer sehr genau auf die Zeit und darauf, dass die Sitzungen pünktlich enden. Später untersuchen Alice und ihr Therapeut gemeinsam, wie sie hier Verantwortung für den gemeinsamen Raum in der therapeutischen Situation übernimmt. Der Therapeut teilt seine Achtsamkeit mit – er erkennt, dass es teilweise ganz bequem für ihn war, Alice auf die Zeit achten zu lassen. Und gleichzeitig erlebt er eine leichte Irritation, dass Alice manche seiner therapeutischen Kompetenzen übernimmt. Als sie sich gegenseitig von ihrem Erleben berichten, führt dieser Austausch der neuen Bewusstheit zu einem wertvollen Moment der Begegnung. Im Laufe der Therapie wird Alice bewusst, wie ihr üblicher Weg, in Beziehung zu treten, nicht nur zu ihrer Anspannung und Angst beiträgt, sondern auch zu ihrer Einsamkeit und einem allgemeinen Mangel an Bedeutung in ihrem Leben.
Die TherapeutIn ko-kreiert die Diagnose der PatientIn. Alles, was die TherapeutIn erlebt, denkt und macht, ist eine Funktion des Feldes. Während sie eine Diagnose stellt, verändert sie aktiv die therapeutische Beziehung. Dank einer diagnostischen Einschätzung aus der ko-kreativen Perspektive ist die TherapeutIn fähig, aus fixierten Mustern auszusteigen. Sie ist fähig, nicht innerhalb eines sich wiederholenden fixierten Musters der Feldorganisation auf die PatientIn zu reagieren, sondern vielmehr wissentlich einen anderen Weg zu suchen oder die Entstehung eines neuen Weges zu ermöglichen. Dies eröffnet einen Raum für Veränderungen im stereotypen Prozess der Feldorganisation. Tatsächlich besteht eines der Risiken der kontextuellen und der symptomatischen Perspektive, die PatientIn, ihre Geschichte und ihre Umwelt zu definieren, ohne sich bewusst zu sein, dass die TherapeutIn gleichzeitig zu einer Ko-Kreation des Leidens im Hier und Jetzt der Situation beiträgt.
3.6.4. Verschiedene Landkarten, eine Grundhaltung
GestalttherapeutInnen können mehrere verschiedene Landkarten benutzen. Sie können entscheiden, welche Perspektive sie wählen wollen, ohne ihre gestalttherapeutische oder irgendeine andere Kompetenz zu verlieren. Wenn es von Nutzen ist, kann sich die TherapeutIn erlauben, sich bewusst auf die Aspekte der therapeutischen Situation zu konzentrieren, die mithilfe des Filters einer psychiatrischen Diagnose gut sichtbar werden. Sie kann sich auf das medizinische Modell stützen und muss nicht mit ihm konkurrieren.
Allerdings nutzen wir das medizinische Modell, ohne das medizinische Paradigma als Ganzes zu übernehmen. Eine GestalttherapeutIn setzt diagnostische Systeme hermeneutisch ein, nicht nach dem medizinischen Ansatz (siehe unten). Eine GestalttherapeutIn versieht ihre PatientInnen nicht mit Etiketten, so als wollte sie etwas benennen, das ausschließlich zu dieser einen PatientIn gehört, etwas Fixes, das auch existieren würde, wenn man es von der Situation abstrahierte. Dies entspräche einer medizinischen Modellposition. Im Prozess der Kreation einer Kontaktfigur nutzt ein gestalttherapeutischer Ansatz alle Informationen aus diesem Bereich als Teil des Hintergrunds. Wie viele andere Hintergründe ist auch dieser Hintergrund unvermeidbar. Wir können nichts weiter tun als uns dieser Tatsache bewusst zu sein und ihn als das zu nutzen, was er ist: ein Vorwissen.
Wenn es hilfreich ist, kann die TherapeutIn dann zulassen, dass diese bestimmte symptomatische Perspektive zugunsten der anderen Perspektiven, der kontextuellen und der ko-kreativen Perspektive, in den Hintergrund tritt. Es wäre Energieverschwendung, wenn wir – als GestalttherapeutInnen – diese Modelle miteinander konkurrieren ließen (und sei es nur in unseren Köpfen) und dem »Gut gegen Böse«-Paradigma verhaftet blieben. Stattdessen ist es möglich, das Potenzial zu nutzen, das die drei unterschiedlichen Schwerpunkte bieten, und sie