Kommentar
Ruella Frank
In ihrem Kapitel stellt Margherita Spagnuolo Lobb einen wichtigen Bereich zur Diskussion, der vor der Mitte der 1980er für GestalttherapeutInnen mehr oder weniger »verboten« war. Die Zeiten – und die Gestalttherapie – haben sich verändert und Spagnuolo Lobb ist eine der EntdeckerInnen in diesem neu eröffneten Territorium. Die Abhandlung, die sie hier präsentiert, stellt einige ihrer Forschungsergebnisse vor. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Punkte in diesem Kapitel zusammenfassen und als in diesem Kapitel erwähnte Forscherkollegin kommentieren, um hoffentlich noch mehr Relevantes zu diesem Thema beizutragen.
Das Herzstück von Spagnuolo Lobbs Theorie ist ihr Konzept der polyphonen Entwicklung von Bereichen. »… das Konzept der Bereiche [geht] von klar differenzierten Kompetenzen aus. Sie entwickeln sich im Laufe des gesamten Lebens kontinuierlich weiter und interagieren, was die Harmonie (wir könnten auch sagen: die Gestalt) der aktuellen Kompetenzen eines Menschen fördert.« Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass die Art zu Sein von Kleinkindern und Kindern nicht primär auf die Befriedigung von Bedürfnissen abzielt (was einer individualistischen Perspektive entspräche), sondern vielmehr darauf, Bedeutung mit dem/der Anderen zu schaffen (eine beziehungsorientierte Perspektive). Und ich teile die Ansicht, dass die Entwicklung keine Frage von sequentiell-phasisch ablaufenden Erfahrungen ist, sondern eher ein Phänomen von Fähigkeiten, die mit der Zeit – nicht unabhängig voneinander, sondern als eine Gesamterfahrung – eine größere Komplexität entwickeln. Als Beziehungsfähigkeit bleibt jeder Bereich im Hintergrund, bis er auf unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Fähigkeiten, alles in Interaktion mit dem/der Anderen, abgerufen wird. Die Bereiche im Rahmen einer klinischen Behandlung zu beobachten, bedeutet nicht, sie einer bestimmten zeitlichen Entwicklungsphase zuzuordnen, was nicht unserer gegenwartszentrierten, phänomenologischen Theorie entspräche, sondern vielmehr zu verstehen, »wie die aktuellen Fähigkeiten der PatientIn zu projizieren, zu retroflektieren usw. (die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben) sich zu einer Gestalt kombinieren, die jetzt von dem »In-Therapie-Sein« der PatientIn repräsentiert wird.« Spagnuolo Lobb integriert hier mühelos ihre Idee der sich entwickelnden Bereiche in unseren theoretischen gestalttherapeutischen Bezugsrahmen und zeigt, wie die Nachwirkungen von früheren Kontakterfahrungen – die historischen und verkörperten Beziehungsthemen – in der Gegenwart existieren und an der Kontaktgrenze klinisch erforscht werden können.
Doch ich würde gerne genauer wissen, wie sich diese Bereiche als neu entstehende Fähigkeiten des Organismus-Umwelt-Feldes innerhalb dieses Felds formen. Welche spezifischen Elemente von Organismus und Umwelt interagieren zu einer bestimmten Zeit in der Entwicklung, sodass diese Bereiche entweder mühelos entstehen oder »entgleisen«? Und wenn sie entstehen, wie unterstützt der vorhergehende Bereich den nachfolgenden (feed-forward) und auf welche Weise unterstützt der nachfolgende den vorhergehenden (feed-back)? Antworten auf diese Fragen würden mir helfen zu verstehen, wie wir uns in einer Spirale der Entwicklung, die sich im Wachstumsprozess ausdehnt, auf Autonomie und Beziehungsreife zubewegen.
Zusätzlich dazu leistet Spagnuolo Lobb hervorragende Arbeit, indem sie das ganze Kapitel hindurch die untrennbare Verbindung zwischen geistigen und körperlichen Prozessen betont. Ich würde mir eine detailliertere Beschreibung davon wünschen, wie dies in das Beziehungsfeld eingebettet ist, in dem die Bereiche ko-kreiert werden. Die phänomenologische Beschreibung der Bereiche in den ersten drei Jahren ihrer Entstehung auszuarbeiten, würde die hier präsentierten Konzepte verdeutlichen und noch mehr wichtige Daten liefern, die auf Aspekte der klinischen Bezugnahme angewendet werden können, z. B. der Bereich der Konfluenz; die Fähigkeit, zu sein, ohne Grenzen wahrzunehmen; die Fähigkeit des Kindes: die Fähigkeit des Kindes, den/die signifikante(n) Andere(n) intersubjektiv und intuitiv zu erkennen.
Lassen Sie mich diesen Bereich in einem kurzen Einschub noch genauer umreißen.
Die Mutter öffnet die Tür zum Zimmer des Babys. Das Baby hört, dass sich die Mutter nähert. Es streckt die Wirbelsäule, weitet den Brustkorb und lächelt voller Vorfreude. Die Mutter nähert sich der Wiege, blickt sanft auf das Baby herab und sagt mit heller und wohltönender Stimme: »Oh, wie hübsch du heute Morgen aussiehst.« Das Baby sieht ihr Gesicht, hört ihre Stimme und streckt sofort beide Arme nach ihr aus. Die Mutter lächelt und greift nach ihm.
Daraus können wir ableiten, dass das Baby »die Intentionen der Erwachsenen intuitiv erkennt und sie zum Abschluss bringt.« Mit anderen Worten: Wir können daraus schließen, dass das Baby in den sich nähernden Schritten der Mutter einen Teil von sich selbst gehört und im Gesicht der Mutter einen Teil von sich selbst gesehen hat, von dem es bis zu diesem Moment nicht gewusst hatte, dass er da war. Erst, als die Mutter auf seinen Ausdruck reagiert, weiß das Baby, dass »das meins ist«. Wir könnten vielleicht sagen, dass das, was es als meins wahrnimmt, auch ein Teil von ihr ist. Wir können daraus auch schließen, dass in der Mutter etwas Ähnliches vorgeht. Daniel Stern nennt dies ein »implizites Beziehungswissen«. In diesen Momenten der kreativen Anpassung gibt es nicht nur Gegenseitigkeit, sondern auch Gemeinsamkeit, mit deren Hilfe die Intentionalität (mit-)geteilt wird. »Ich sehe dich mich sehen«, »Ich fühle dich mich fühlen«.
Ich denke, dass eine vollständigere phänomenologische Beschreibung jedes Bereiches die Bi-Direktionalität von Entwicklungsprozessen in den ersten drei Lebensjahren und im fortlaufenden In-Kontakt-Treten untermauern könnte.
Wir PsychotherapeutInnen könnten uns dann fragen: »Was sagt uns das, was meine PatientIn von sich in mir sieht/fühlt, und dem, was ich von mir in meiner PatientIn sehe/fühle, über die Situation, die wir gerade leben? Wie sieht sich meine PatientIn selbst in der Art, wie ich auf dem Stuhl sitze, wie ich mich auf sie zu – oder mich von ihr wegbewege, wie ich gestikuliere und atme?« In der Beobachtung an der Kontaktgrenze, die uns im Laufe dieses Kapitels ganz richtig und überzeugend ans Herz gelegt wird, sind die Errungenschaften des In-Kontakt-Tretens – die durch Entwicklung gewonnen Fähigkeiten – lebendig und präsent, um mit ihnen und durch sie zu arbeiten.
Margherita Spagnuolo Lobb präsentiert hier eine weitere wichtige Idee für unser Verstehen, nämlich dass die KlientIn in der PsychotherapeutIn ihren Widerhall findet. Man kann diesen Aspekt gar nicht genug betonen. Es ist schließlich eine unserer wesentlichen Methoden, eine Diagnose des Beziehungsfeldes zu stellen – durch das, was wir sehen, hören und fühlen. Aus meiner Sicht entsteht das, was wir hören und sehen, aus dem, wie wir fühlen und uns bewegen. Ich denke, dass es grundlegend wichtig ist, immer wieder darauf zurückzukommen, wie wir PsychotherapeutInnen das Gewicht unseres Körpers auf dem Stuhl wahrnehmen, bevor wir eine Intervention angehen oder vorschnell eine Idee entwickeln, die möglicherweise entkörpert ist. Wie ich meinen Supervisanden immer sage: »Beginnen Sie keine Intervention, bevor Sie sich selbst in Ihrem Stuhl spüren.« Mein Erleben des Körpergewichts ist eine geteilte Erfahrung, das heißt, dass ich durch das Spüren meines Körpers das »Es der Situation« (Robine 2010) wahrnehme, oder das, was zwischen uns passiert und was ich durch mein körperliches Erleben erfahre.
Wenn wir uns selbst nicht deutlich wahrnehmen können – wissen, dass wir hier sind und wie wir hier sind, wie können wir wissen, wie wir den/die Andere(n) wahrnehmen und was zwischen uns passiert – wir können nur raten. Doch wenn wir uns unserer körperlichen Einstimmung widmen, von der Spagnuolo Lobb sagt, dass sie die Erfahrung von PsychotherapeutIn und PatientIn »vereint«, begleiten wir den fortlaufenden non-verbalen Dialog innerhalb des Beziehungsfelds. Ich würde dem hinzufügen, dass wir, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf unser körperliches Erleben richten, nicht nur wissen, wie wir auf die KlientIn reagieren, sondern auch, welche Signale wir ihr geben. Dies ermöglicht uns eine deutlichere Konzeptualisierung dessen, was in der Situation der Therapie vor sich geht, und lässt uns spüren, wenn unser eigenes Verhalten den fortlaufenden non-verbalen Dialog während der Sitzung behindert oder erleichtert. Es ist wichtig, eine gefühlte Grundlage für das Wissen zu haben, wie wir was tun, um die in der Situation gegebenen Phänomene zu beeinflussen. Mit anderen Worten: Genauso wie die KlientIn uns durch ihren körperlichen