Abb. 2: Gestalttherapeutische Karte der polyphonen Entwicklung der Bereiche
Das gestalttherapeutische Konzept der Konfluenz liefert eine schlüssige Erklärung der Intuition zwischen Mutter und Kind (die sich möglicherweise bis ins Erwachsenenalter fortsetzt): Es handelt sich dabei um eine Sensibilität gegenüber den Vorgängen in der Umwelt oder um eine Sensibilität gegenüber »natürlichen Anhaltspunkten«, um einen phänomenologischen Begriff zu verwenden (siehe Blankenburg 1998). Dieser Bereich bleibt und kann im Lauf des Lebens (weiter-)entwickelt werden.
Das Risiko, das mit einer Desensibilisierung dieses Bereichs einhergeht, ist Wahnsinn: Wahrnehmung ohne Klarheit. Und ich würde sogar sagen: ohne Atem (aufgrund von Angst).
3.2 Der Bereich der Introjektion. Die Fähigkeit des Being-with, während die Umwelt ins Innere aufgenommen wird
Das Kind ist Umweltreizen gegenüber sensibel, da sie ihm die Lernmöglichkeiten bieten: Es wiederholt zunächst Laute, dann Wörter, eignet sich die Syntax sowohl der Sprache als auch der primären Beziehungen an, wirft Gegenstände zu Boden, ahmt die Gesten der Erwachsenen nach usw.). Diese Erfahrungen gehören zum Bereich der Introjektion, einer Kontaktmodalität, die sich durch die Integration von Umweltreizen auszeichnet. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Sprache und das gesamte kulturelle Gefüge, in dem das Kind aufwächst (die Gepflogenheiten und Regeln einer Gesellschaft), und die familiären Beziehungsmuster (was bringt die Mutter zum Lächeln, wenn sie müde ist, wie bringt das Kind den Vater dazu, ihm zu erlauben, spielen zu gehen, und was macht ihn wütend usw.). Die Energie des Kindes konzentriert sich darauf, Dingen und Beziehungsmustern Namen zu geben. Das verleiht ihm ein Gefühl der Macht: »Happa-Happa« zu sagen, wenn es hungrig ist, bedeutet, dass das Kind nicht schreien muss, um sich mit seinem Umfeld zu verständigen. Ebenso lässt ein gewinnendes Lächeln den Ärger des Vaters verfliegen, sodass das Kind den »Kampf« mit ihm gewinnt. Sein ganzes Selbst ist darauf ausgerichtet, von der Welt zu lernen, indem es sie in sich aufnimmt. Das Kind zieht Energie und ein Gefühl für das Selbst daraus, dass die Welt es formt. Seine Kreativität drückt sich in der Neugier aus wenn es wissen will, »wie die Welt schmeckt, wenn ich sie esse.« Im Rahmen der Entwicklung dieses Bereiches gibt das Kind auch sich selbst und den eigenen Handlungen einen Namen (»Lukas ist hungrig«, »Lukas ist ein lieber Junge« usw.). Diese Kontaktmodalität wird im Laufe des Lebens immer weiterentwickelt und bildet die Grundlage für die Fähigkeit zu lernen.
Das Risiko in diesem Bereich geht allgemein von der Desensibilisierung aus, die die Kontaktgrenze betäubt, sodass die Welt in den Organismus eindringt, ohne im Austausch dafür Energie zu bekommen. Die Folge ist eine Depression des Organismus, da er nicht in der Lage ist, das zu benennen, was ihm seinem Gefühl nach nicht gehört.
3.3 Der Bereich der Projektion. Die Fähigkeit des Being-with, indem man sich auf die Welt einlässt
Ein weiterer Bereich betrifft die Kontaktmodalität der Projektion, durch die das Kind fähig ist, sich auf die Welt einzulassen und seine Energie dem/der Anderen und der Umwelt anzuvertrauen. Das Kind ist allem gegenüber neugierig und nutzt seine Energie, um die Welt kennen zu lernen: Es öffnet Schubladen und alles, was geschlossen ist, projiziert das Selbst dorthin, wo es nicht ist und wo es sein könnte. Die Fähigkeit, in die Welt und die Umwelt einzutauchen, wird z. B. in dem Projektionsspiel in der Zeit deutlich, wenn das Kind das Pronomen »du« sehr häufig und mit großem Vergnügen verwendet: »Du … du … du.« Was auch immer zu ihm gesagt wird, es wird dem/der Anderen zurückgegeben.
Die Fantasie, der Mut zur Entdeckung, der Einsatz des Körpers, um Veränderungen im Kontakt mit der Umwelt herbeizuführen, der Tanz als expressive Bewegung in der Welt – dies sind die Fähigkeiten, die der Organismus im Laufe des Lebens mithilfe dieses Bereichs entwickelt. Er drückt die Fähigkeit aus, sich dem/der Anderen anzuvertrauen.
Wie es bei der Introjektion eine Fähigkeit und ein Vergnügen daran gibt, sich die Welt im Selbst anzueignen, handelt es sich hierbei um eine Fähigkeit und ein Vergnügen daran, sich auf diese Welt einzulassen.
Eine Desensibilisierung der Kontaktgrenze birgt das Risiko, dass die Projektion als Versuch entsteht, eine Angst aufzulösen, ohne den/die Andere(n) wahrzunehmen, was zu paranoiden Erfahrungen führt (der/die Andere, auf den/die ich projiziere, ist unfähig oder böse).
3.4 Der Bereich der Retroflexion. Die Fähigkeit des Being-with, während die eigene Energie bewahrt wird
Ein weiterer Bereich betrifft die Modalität der Retroflexion: das Gefühl für die Fülle der eigenen Energie, die im Körper und im Selbst sicher bewahrt ist. Das Kind eignet sich jetzt die Fähigkeit an, allein zu sein, zu reflektieren, kreativ zu denken, Geschichten zu erfinden, wie Stern (1985), Stern et al. (2000) und Polster (1987) ausführen. Wenn sich dieser Bereich auftut, begeistert sich das Kind dafür, Geschichten über sich und andere zu erzählen und Geschichten aus reiner Kreativität zu erfinden: Es erzählt Geschichten und sein ganzes Selbst gibt sich dem Akt des Erschaffens hin. Bei den Erwachsenen ruft dies Verwunderung hervor, was die Fähigkeit des Kindes stärkt, mit anderen und der Umwelt in Kontakt zu treten und sich selbst als erschaffene und erschaffende kreative Gestalt zu präsentieren: Tatsächlich erkennt der/die Erwachsene sich oder die Welt in einer überraschenden Version in der Kontaktmodalität des Kindes wieder. Dieses Wiedererkennen ist sowohl unerwartet als auch harmonisch (gut geformt). Diese Kontaktmodalität wird das ganze Leben hindurch weiterentwickelt, sie bildet die Grundlage für die Kreativität, d. h. die Fähigkeit, sich mit sich selbst sicher zu fühlen und sich selbst zu vertrauen, zu reflektieren und sich der Welt mit seiner eigenen Individualität anzubieten.
Eine Desensibilisierung der Kontaktgrenze birgt das Risiko, dass Retroflexion zu Einsamkeit führt und die Kreativität des Subjekts dem/der Anderen gar nicht – oder als Selbstüberschätzung – gezeigt wird.
3.5 Der Bereich des Egotismus. Die Fähigkeit des Being-with in bewusster Kontrolle
Der letzte Bereich betrifft die Modalität des Egotismus: die Fähigkeit, stolz auf sich selbst zu sein. Dabei handelt es sich um die Kunst der »bewussten Kontrolle« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 322). Das Kind, das den Brei schluckt, den die Mutter ihm auf dem Löffel gibt, und dann den Löffel selbst in die Hand nehmen und allein essen will,7 bezieht Energie daraus, dass es seiner Umwelt zum Trotz eine definierte Figur seiner selbst erschafft (»[der] Versuch, das Unkontrollierbare und Überraschende auszumerzen«, PHG 2006, Bd. 1, 321). Diese Modalität des In-Kontakt-Tretens bildet die Grundlage für Autonomie, für die Fähigkeit, eine Strategie in einer schwierigen Situation zu finden und sich selbst der Welt mit seiner Individualität anzubieten. Diese Fähigkeit entwickelt sich das ganze Leben lang.
Das Risiko einer desensibilisierten Kontaktgrenze ist, dass der Mensch »seine ›Probleme‹ höchst interessant [findet]« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 321) und dass die Wahrnehmung seiner selbst angesichts der Umwelt ein Gefühl der Langeweile und der Leere erzeugt (die Gestalt ist eine zwanghafte Wiederholung), so dass das Bedürfnis sich zu kontrollieren die natürliche Spontaneität des Seins überlagert. Abbildung 3 zeigt, wie Erregungen, Lebensfähigkeiten und Risiken jeden der Bereiche charakterisieren.
Die Gestalttherapie hat von Anfang an vor den Gefahren des Egotismus gewarnt (siehe Perls / Hefferline / Goodman 2006; Spagnuolo Lobb 2005a) und ihn als Hindernis für Spontaneität und Interesse am Leben betrachtet. Allerdings birgt tatsächlich jede der oben erwähnten Modalitäten diese erlebnisorientierten Möglichkeiten. Es ist eine Tatsache, dass die Fähigkeit spontan zu sein mit der ästhetischen Präsenz verbunden ist, mit dem vollen Gefühl, mit der Verfügbarkeit der Sinne, die wiederum eine Bedingung für eine harmonische Synthese