3.7 Der Einsatz von Diagnosen zur Förderung des therapeutischen Prozesses
Die diagnostische Beschreibung der therapeutischen Situation ist bei reflexiven Prozesse hilfreich, z. B. wenn sich die TherapeutIn nach der Sitzung Notizen macht oder wenn sie zur Supervision kommt. Außerdem fördert sie im Verlauf einer therapeutischen Sitzung die Orientierung. Zudem kann sie als therapeutisches Werkzeug eingesetzt werden, wenn die TherapeutIn ihre diagnostischen Überlegungen sicher und einfühlsam in das Gespräch mit der PatientIn einfließen lässt und sie dadurch gemeinsam ihre Bewusstheit für die aktuelle Situation erweitern können. Jedes extrinsische Diagnose-System kann von einer GestalttherapeutIn verwendet werden, solange es hermeneutisch genutzt wird, also auf eine Art und Weise, die den Kontakt unterstützt.
Vorsicht ist geboten, wenn man eine Diagnose als eine extrinsische Landkarte verwendet.21 Als Handlung, die zwangsläufig objektiviert, besteht das Risiko, »Gewalt auszuüben« und die Subjektivität des Menschen zu verlieren. Keine Landkarte kann alles über die Subjektivität des/der anderen aufzeigen: Sie wird immer ein Geheimnis bleiben (Jaspers 1963). Wie können wir diese Art von Diagnose in die Beziehung bringen und gleichzeitig vermeiden, »eine Norm durchzusetzen, statt dem anderen zu helfen, sein Potenzial zu entwickeln?« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 310)
Mit dem naturalistischen und dem hermeneutischen Modell gibt es zwei verschiedene Horizonte, in denen Diagnosen in der Therapie verortet werden können. Das naturalistische Modell impliziert eine objektivierende Beziehung, die auf den intersubjektiven Kontakt ausgerichtet ist. Es ist das medizinische Modell: Symptome werden »kartiert« und die Landkarte, die sich aus diesen Daten ergibt, wird dann bei der Behandlung eingesetzt, ohne dass die Subjektivität der PatientIn eine Rolle spielte. Im hermeneutischen Modell wiederum ist der diagnostische Prozess ko-konstruiert und kombiniert das Wissen (und das Vorwissen) von TherapeutIn und PatientIn (Gadamer 1960; Salonia 1992; Sichera 2001).
Die »Metaposition« oder der »andere Raum«, der nach und nach mit der PatientIn ko-kreiert wird, stellt eine(n) »Dritte(n)« dar, in der die therapeutische Beziehung verankert werden kann. Es ist ein Raum, der aus dem Bedürfnis der TherapeutIn entsteht, sich zu orientieren, das Erleben, das mit der PatientIn ko-kreiert wird, zu interpretieren und eine Konfluenz mit diesem Erleben zu vermeiden. Es ist ein Raum, der aus dem Bedürfnis der PatientIn entsteht, zu glauben, dass es einen Ausgangspunkt und daher auch ein Ziel gibt.
Die objektivierende Verwendung von naturalistischen Diagnosen schafft eine Kluft zwischen der PatientIn und ihrem Beziehungskontext. Die daraus entstehende Isolation kann pathogen werden und noch mehr erlebtes und zum Ausdruck gebrachtes Leiden schaffen, indem sie die Beziehungen der PatientIn zusätzlich verletzt. Wir müssen das latente Risiko umgehen, Verhaltensweisen mit gelebten Erfahrungen zu verwechseln und den anderen/die andere in Kategorien »einzufrieren«. Alternativ dazu kann eine Diagnose einen beziehungsorientierten Prozess darstellen, der durch Kontakt und durch die Wahrheit ko-kreiert wird, die der Kontakt freisetzt.
Die Landkarte hat einen zirkulären Einfluss auf das Gebiet: Die (pathogenen oder unterstützenden) Auswirkungen der gestellten Diagnose werden auf individueller, familiärer und sozialer Ebene spürbar. Als Teil des Beziehungsprozesses in der Psychotherapie ist es die Intention einer Diagnose, die therapeutische Beziehung zu unterstützen. Dabei lassen sich zwei Unterstützungsfunktionen feststellen: Die erste gibt der therapeutischen Beziehung eine entwicklungsgemäße Richtung. Eine Diagnose muss das Leiden von Beziehungen abschätzen und kommunizieren können. Was die TherapeutIn herausarbeiten will, ist die Art, wie eine Beziehung leidet und welche Intentionalität während des Kontaktes unterstützt werden muss. Die zweite Unterstützungsfunktion verankert die therapeutische Beziehung in einem dritten Element. Die Diagnose kann selbst dieses dritte Element sein, das die Therapie in einem erweiterten Korpus von Wissen und Erfahren, in einer sedimentären und gemeinsamen Geschichte, in der beruflichen Gemeinschaft verankert.
In der therapeutischen Beziehung kann eine extrinsische Diagnose den Kontakt unterstützen, wenn die PatientIn das Bedürfnis verspürt, ihr Erleben in Worten auszudrücken und mit den Worten und dem Hintergrund der TherapeutIn zu vergleichen. In diesem Fall ist die Diagnose Teil eines viel weitergehenden Definitionsprozesses und kommt der Konstruktion persönlicher Bestätigung gleich. Die Worte zu finden, mit denen man sein Leiden gemeinsam mit der TherapeutIn beschreibt, kann sich als tiefgreifende und bedeutungsvolle Erfahrung erweisen, die einen Wandel bewirkt: Sie ist das Ergebnis einer Ko-Kreation in einem hermeneutischen Bezugsrahmen.22 Die Art, wie eine Diagnose in die therapeutische Beziehung gebracht wird, ist deutlich wichtiger als die Art der extrinsischen Diagnose, die verwendet wird.
Kehren wir noch einmal zu Paul zurück, der verzweifelt zu einer therapeutischen Sitzung kam und keinen Ausweg wusste. Wie oben geschildert, hat der Therapeut eine Beschreibung der therapeutischen Situation gefunden (eine extrinsische Diagnose), die seinem aktuellen Erleben mit dem Patienten Bedeutung verleiht. Sie hat dabei geholfen, ihm das lähmende Gefühl der Frustration und Hilflosigkeit zu nehmen und den inneren Druck zu lösen, zu viel Verantwortung zu übernehmen. Der Therapeut war wieder bereit, dem Patienten zu begegnen. Nun stellte sich die Frage, wie eine extrinsische Diagnose in den Dialog mit dem Patienten gebracht werden konnte. Es war wichtig, Worte und Konzepte zu wählen, die dem Patienten bereits vertraut waren. Der Therapeut verwendete eine Metapher von »Wellen, die auf und nieder gehen«, die bereits früher in der Therapie diskutiert worden war und auf die sie sich als adäquate Beschreibung der emotionalen Schwankungen des Patienten geeinigt hatten. Der Therapeut schlug eine Beschreibung des aktuellen Zustands als »depressive Abwärtswelle« vor und zeichnete die Kurve in der Luft nach. Er fragte den Patienten, wo er sich gerade selbst in der Kurve sah. Paul zeigte auf eine Stelle am unteren Ende der Kurve und sagte, dass er es nicht aushalte, dass es zu lange dauere und dass er nicht die Kraft habe, damit umzugehen. Er war verzweifelt, sah keine Hoffnung, keine Stelle, um den Absprung zu schaffen.
Der Therapeut versicherte ihm, dass er glaube, dass er, Paul, seine Situation als sehr schwierig erlebe. Und er beschrieb ihm ein Bild, das er vor seinem inneren Auge sah: Dass ein Mensch, der tief unten im Tal der »depressiven Welle« ist, die Ressourcen nicht sehen kann, die von oben auf dem Kamm der Welle sichtbar sind, dass die Erfahrung der Hoffnungslosigkeit zu diesem Zustand dazugehört, wenn man sich im Wellental befindet. Paul sah einen Moment interessiert auf, dann nickte er zustimmend.
Sie erinnerten sich gemeinsam an die Zeit, als Paul einen ähnlichen Zustand erlebt und wie lange die »depressive Welle« damals gedauert hatte. Sie sprachen über ihre Erinnerungen und stellten fest, dass eine ähnliche Welle schon mehrmals aufgetaucht war, das letzte Mal vor fast einem Jahr. Paul erinnerte sich daran, dass jede »Welle nach unten« ungefähr zwei Monate gedauert hatte. Der Zustand äußerster Verzweiflung hielt ungefähr zwei oder drei Wochen lang an. Der Therapeut schlug auch vor herauszufinden, was ihm damals geholfen und was die Situation noch schlimmer gemacht hatte. Dieser Vorschlag schien Pauls Fähigkeiten in diesem Moment jedoch zu übersteigen. Daher einigten sie sich darauf, in der nächsten Sitzung darauf zurückzukommen.
Der Patient und der Therapeut wurden sich des größeren Kontexts bewusst, in den der aktuelle Zustand eingebettet war. Das Erleben des Patienten veränderte sich während der Sitzung nicht, er fühlte sich immer noch verzweifelt und hoffnungslos, doch nun hatte er ein Werkzeug an der Hand, das ihm half, seine Situation zu verstehen und seinen aktuellen Zustand auszuhalten. Und das Wichtigste war: Er hatte einen Kontakt mit seinem Therapeuten erlebt, der diese schwere Zeit gemeinsam mit ihm durchstehen wollte.
Eine extrinsische Diagnose wird verwendet, um das Mit-der-PatientIn-Sein zu fördern. Dies kann in mehreren Fällen sinnvoll sein:
• Es gibt ein Phänomen (Gedanke, Angst, Frage, Verlangen …), das im Kontakt auftritt, und der/die Therapeut(in) muss ihm eine Bedeutung verleihen und entscheiden, was er damit macht. Der diagnostische Prozess wird von TherapeutIn und PatientIn ko-konstruiert.