Externe Einflüsse waren schließlich auch ausschlaggebend für die Gegenreformation und die katholische Reform im Bistum Chur. So kam etwa die (allerdings nur teilweise und kurzzeitige) Restitution der bischöflichen Jurisdiktionsrechte 1623 unter militärischem Druck Österreichs zustande.116 Und für erste Reformen von Seelsorge und Domkapitel zeichneten im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts der Mailänder Erzbischof Carlo Borromeo sowie die päpstlichen Nuntien verantwortlich. Durch die Missionsarbeit der unter dem Patronat der Kurienkongregation de Propaganda Fide stehenden Kapuziner aus den italienischen Ordensprovinzen änderte sich zudem das kirchliche Leben in den Pfarreien grundlegend.117
In Bezug auf die kirchlich-religiösen Verhältnisse im rätischen Alpenraum lassen sich in dieser kursorischen Gesamtschau zwei auf den ersten Blick gegenläufige Grundtendenzen erkennen: eine dezentrale, selbstbestimmte Organisation des kirchlichen Lebens auf der einen Seite, eine weitgehende Einflussnahme externer Akteure und Institutionen auf der anderen Seite. Dass nicht die eine oder andere Kraft allein die katholische Kultur und Gesellschaft zu prägen vermochte, dürfte klar sein. Frömmigkeitskultur und Glaubenspraxis im rätischen Alpenraum sind irgendwo in diesem Kräftefeld zwischen lokaler Selbstbezogenheit und externen Einflussfaktoren anzusiedeln. Wo genau, ist eine empirische Frage, der es in den drei Hauptteilen der vorliegenden Arbeit nachzugehen gilt.
Im ersten Hauptkapitel »Translokaler Katholizismus« (2.) werden wir sehen, dass weder die katholische Kultur und Gesellschaft im Allgemeinen noch die mit weitreichenden Befugnissen ausgestatteten Kirchgemeinden im Besonderen selbstreferentielle Systeme waren. Durch die Auswertung bisher noch nicht systematisch erforschter römischer Quellenbestände (vor allem im Archiv der Propaganda Fide118) sowie des Aktenmaterials der Mailänder und Brescianer Kapuzinermission119 wird es möglich sein, die ganze Bandbreite großräumiger Vernetzungen auszuloten (2.2.). Sodann wird gezeigt, dass sich seit dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts eine zunehmende kommunikative Verdichtung zwischen Rom und dem rätischen Alpenraum einstellte (2.3.). Durch die so aufgebauten Kommunikationszusammenhänge entstanden neue Interdependenzen, die für lokale Akteure einerseits neue Handlungschancen boten, gleichzeitig aber die angestammten Mechanismen (etwa der Pfarrwahl) vor große Herausforderungen stellten (2.4.).
Im zweiten Hauptkapitel »Barocke Gnadenlandschaften« (3.) richtet sich der Blick auf die Frömmigkeitskultur, die sich unter dem Vorzeichen der großräumigen Verflechtung im rätischen Alpenraum zu formieren begann. In zeitgenössischen Abhandlungen über einzelne Wallfahrtsorte und Heiligenkulte, in Bruderschafts-, Andachts- und Liederbüchern120 sowie in anderen Erzeugnissen lokalen Erzählguts121 lassen sich Glaubensmanifestationen entdecken, die teils für dauerhafte, teils für temporäre Verbindungen zwischen Himmel und Erde sorgten und so ein sakrales Umfeld schufen, in dem die Wahrscheinlichkeit eines göttlichen Gnadenerweises – sei es eine mirakulöse Heilung, sei es ein anderes Wunder – besonders hoch schien (3.2.). Es wird zu zeigen sein, dass diese sakrale Vereinnahmung der Landschaft alles andere als interessenfrei vor sich ging: Kapuziner, Jesuiten und andere Verfechter des tridentinisch erneuerten Katholizismus versuchten so einerseits, die ostentative Präsenz der römischen Bekenntniskirche im gemischtkonfessionellen rätischen Alpenraum zu erhöhen und die katholisch gebliebenen Täler noch stärker in den kulturellen Einflussbereich des katholischen Italiens zu ziehen. Andererseits bot eine sakralisierte Landschaft, in welcher sich allenthalben von Gott bewirkte Wunder zutrugen, eine geeignete Bühne für die innerkatholische Mission – das heißt für die Vermittlung von konfessionell festgelegten Frömmigkeitsidealen (3.3.).
Dass es trotz dieser konfessionspolitischen Absichten verfehlt wäre, die Ausgestaltung der barocken Gnadenlandschaft allein kirchlichen Akteuren zuzuschreiben, zeigt das dritte Hauptkapitel »Ökonomien des (Un)Heils« (4.). Die hierfür ausgewerteten Mirakelgeschichten – überliefert einerseits in gedruckten Mirakelbüchen122, andererseits in Akten von Informativprozessen123 – geben Einblicke in die praktizierte Religiosität der Laien, in ihre spirituellen Bedürfnisse und in die Möglichkeiten, prekäre Lebenssituationen mit religiösen Praktiken zu bewältigen. Zu fragen ist einerseits, inwiefern sich diese Möglichkeiten im rätischen Alpenraum aufgrund der verstärkten Einbindung in das Gnadenterritorium der römischen Kirche vervielfältigten und welche Dynamiken sich dabei einstellten (4.2.). Andererseits soll der Umgang der Institution Kirche mit lokalen Adaptionen von wunderversprechenden Kultformen interessieren, zumal diese die kirchliche Deutungshoheit über das Sakrale tendenziell infrage zu stellen drohten (4.3.). Denn wie gut auch immer sich die Kirche in der barocken Gnadenlandschaft als heilsvermittelnde Institution zu inszenieren vermochte, waren Wunder (der zeitgenössischen Weltdeutung zufolge) am Ende dennoch allein von der göttlichen Fügung abhängig und konnten sich potenziell auch in Bereichen und in Verbindung mit Personen oder Gegenständen einstellen, für die die kirchliche Lehrmeinung keine solche vorsah. Für die um eine formalisierte Kontrolle des Sakralen bemühte nachtridentinische Kirche offenbarte sich darin die ganze Ambivalenz einer barocken Frömmigkeitskultur, die einerseits der alltäglichen Lebenswelt ein demonstrativ katholisch-konfessionelles Gepräge zu verleihen vermochte, andererseits aber gerade dadurch den Bereich des Sakralen in der Tendenz über den kontrollierbaren Bereich der Gotteshäuser hinaus erweiterte.
Das Bild, das in der vorliegenden Arbeit von der katholischen Gesellschaft im rätischen Alpenraum gezeichnet wird, ist ein Bild voller Kontraste und Divergenzen, voller scheinbarer Widersprüche und Gegenläufigkeiten, deren scharfe Konturen bei genauer Betrachtung mehr und mehr verschwimmen: Obwohl sich die Einflussnahme auswärtiger Akteure und Institutionen im Verlaufe des 17. und 18. Jahrhunderts intensivierte, werden wir sehen, dass dies nicht zwangsläufig zu einer Einschränkung lokaler Handlungsspielräume führte, im Gegenteil: Den örtlichen Kultgemeinschaften konnten sich unter Umständen neue Wege eröffnen, die eigenen Interessen gegen lokale Widerstände, insbesondere gegen den zuständigen Bischof, durchzusetzen. Auf der anderen Seite werden wir erkennen, dass die von Vertretern des erneuerten Katholizismus angestrebte Sakralisierung der Lebenswelt zwar das Deutungsmonopol der Kirche über das Sakrale partiell verwässerte, gleichzeitig aber auf diese Weise eine stärkere Einbindung des rätischen Alpenraums in die römische Amtskirche möglich wurde. Und schließlich werden wir feststellen, dass es trotz – oder vielleicht gerade wegen – der ostentativ bewusst gemachten konfessionellen Andersartigkeit und kulturell-religiösen Abgrenzung der Konfessionskirchen immer auch Lebensrealitäten gab, bei denen die Überschreitung und Durchlässigkeit konfessioneller Grenzen zum Alltag dazugehörten. Was diese dialektischen Wechselbeziehungen betrifft, so ist das in der vorliegenden Arbeit skizzierte Bild vom rätischen Alpenraum nicht unähnlich den Gemälden Caravaggios (1571–1610), die mit dem kontrastreichen Wechsel von Licht und Dunkelheit einzelne Wesensmerkmale des Dargestellten deutlich hervortreten lassen, dabei jedoch immer auch Ambivalenzen vor Augen führen, etwa, wenn durch den Einfall des Lichts dem nur allzu Profanen eine Aura des Sakralen verliehen wird.124 Gerade solche Ambivalenzen waren – jetzt über die Barockmalerei hinaus gedacht – für eine Institution wie die katholische Kirche, die als irdische Institution im Sinne des Prinzips extra ecclesiam nulla salus für sich beanspruchte, jenseitiges Heil vermitteln zu können, bezeichnend. Indem in der vorliegenden Arbeit deutlich wird, wie mit profanen Mitteln (etwa Kirchenbau, Beschaffung von Gnadenbildern,