Räumliche Konstellationen wie die eben bezeichnete sind nicht starr, sondern Dynamiken unterworfen, wie insbesondere Susanne Rau in ihrem methodisch-theoretischen Aufriss einer historischen Raumanalyse betont: Räume verändern sich »unter dem Einfluss von Menschen, die sich diese Räume aneignen, sie gestalten, anders anordnen, gegebenenfalls auch wieder auflösen«, wobei es »bei räumlichen Dynamiken […] immer auch um Fragen der Macht (wer ist an solchen Prozessen beteiligt?) und der Durchsetzung«103 geht. Für die Untersuchung räumlicher Verflechtungsprozesse katholischen Zuschnitts bedeutet dies, dass wir in einem ersten Schritt diejenigen Akteure identifizieren müssen, die die katholische Gesellschaft und Kultur im rätischen Alpenraum mitzubestimmen und mitzuformen in der Lage waren (2. Translokaler Katholizismus):104 Welche Rolle spielten von Rom eingesetzte Institutionen und Akteure? Inwiefern zeigten katholische Fürstenhäuser Interesse an den lokalen religiösen Verhältnissen? Und welche Handlungsmacht besaßen die örtlichen Pfarrgemeinden? Nachdem dies geklärt ist, kann in einem zweiten Schritt nachgezeichnet werden, wie im Zusammenspiel dieser Akteure materielle und symbolische Güter (Gotteshäuser, Reliquien, Gnadenbilder, Ablässe etc.) zu Räumen angeordnet wurden, in denen sich das Eingreifen Gottes in die Welt manifestieren konnte (3. Barocke Gnadenlandschaften). Zu fragen ist dabei zunächst nach der konfessionspolitischen Relevanz dieser räumlichen Aneignungs- und Gestaltungsprozesse: Inwieweit konnte die römisch-katholische Kirche so ihre heilsvermittelnde Macht inszenieren? Und inwiefern ließ sich dadurch das konfessionelle Grenzgebiet stärker in die römisch-katholische Amtskirche einbinden? Daran anschließend sollen in einem dritten und letzten Schritt die Rückwirkungen dieser derart gestalteten Räume auf die Menschen und ihr religiöses Handeln in den Mittelpunkt rücken (4. Ökonomien des [Un]Heils): Welchen Nutzen zogen die Gläubigen aus der Einbindung in die als sakral erscheinende römisch-katholischen Einflusssphäre? Wie eigneten sie sich diese sakralen Lebensräume an und inwiefern waren sie dadurch in der Lage, die barocke Gnadenlandschaft mitzugestalten? Im Verbund werden diese drei analytischen Perspektiven zu einem Gesamtbild der katholischen Gesellschaft im rätischen Alpenraum führen, das die Kirche als heilsvermittelnde Institution ebenso wie die praktizierte Laienreligiosität, nebst kirchenpolitischen Entwicklungen auch die Frömmigkeitskultur und schließlich sowohl die lokalen Kultgemeinschaften als auch externe Einflusssphären berücksichtigt.
1.4. Der rätische Alpenraum als Fallbeispiel: Inhalt, Quellengrundlage und Aufbau der Studie
Im Vergleich zu anderen Regionen wies der rätische Alpenraum in der Frühen Neuzeit einige Besonderheiten auf, die ihn als paradigmatischen Testfall für historische Erklärungsmodelle geradezu prädestinieren. Dies gilt erstens für die politische Ordnung, die seit dem landesrechtlichen Zusammenschluss des Gotteshausbundes, des Grauen Bundes und des Zehngerichtenbundes zu den sogenannten Drei Bünden 1524 zwar gemeinsame Institutionen kannte (Bundestage, Beitage, Syndikatur für die gemeinsamen Untertanengebiete), gleichzeitig aber den einzelnen Gerichtsgemeinden weitgehende Selbstverwaltungskompetenzen zubilligte, womit hier ein nahezu idealtypisches Exempel eines kommunalistisch-republikanischen Gemeinwesens vorliegt.105 Dies gilt zweitens auch für die »starke Konfessionalisierung von Glaubenspraxis und Politik«, die sich trotz »weitgehend fehlender Staatsbildung«106 in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bemerkbar machte und der Historikerzunft die Grenzen des obrigkeitszentrierten Konfessionalisierungsparadigmas aufgezeigt hat. Auch für die in der vorliegenden Arbeit zur Diskussion stehende Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Einbindung lokaler Gesellschaften in die gesamtkatholische Kultgemeinschaft erweist sich der rätische Alpenraum als ideales Fallbeispiel, und dies aus nachfolgend bezeichneten, Kirche und Konfession betreffenden Eigentümlichkeiten.
Die Rechte zur Ernennung von Pfarrern sowie die Verwaltung des Kirchenvermögens lagen in den Drei Bünden seit den zweiten Ilanzer Bundesartikeln von 1526 faktisch bei den Gemeinden. Damit hatte sich die bereits im Spätmittelalter abzeichnende Kommunalisierungstendenz im kirchlichen Bereich verfassungsrechtlich festgeschrieben.107 Im gleichen Zug erfolgte die weitgehende Ablösung der bischöflichen Herrschafts- und Jurisdiktionsrechte; die Besetzung von Kirchenämtern mit Landesfremden wurde verboten. Auch im Veltlin regelten die Gemeinden das kirchliche Leben nahezu autonom, zumal die herrschenden Drei Bünde den Zugriffsmöglichkeiten des Bischofs von Como Schranken setzten.108 Insgesamt war im rätischen Alpenraum damit die Kontrolle über Kirchenressourcen ausgesprochen dezentral und lokal organisiert, was sich auch in einer »massiven Vermehrung der Zahl der Kirchgemeinden in der Frühen Neuzeit«109 niederschlug.
Vergleichsweise früh kam es in den Drei Bünden zu einer rechtlichen Anerkennung der konfessionellen Koexistenz. Ein Bundestagsbeschluss im März 1526 hielt fest, dass es grundsätzlich »jedermann« innerhalb der Drei Bünde freistehe, sich für eine der beiden Konfessionen (nicht aber für das Täufertum oder andere »Sekten«) zu entscheiden.110 Diese rechtliche Garantie begünstigte ein rasches Ausbreiten der evangelischen Bewegung, sodass bis um 1600 annähernd zwei Drittel der Gemeinden protestantisch wurden.111 Katholisch blieben die Gemeinden im Misox, Calancatal, Valsertal und Oberhalbstein, mehrheitlich auch im Val Lumnezia und im Albulatal. Im Domleschg waren die Gemeinden Cazis und Tomils von Protestanten umgeben; Ilanz und Waltensburg bildeten protestantische Inseln inmitten der katholischen Surselva. Im Puschlav (Poschiavo) und in der Umgebung von Chur bildeten sich gemischtkonfessionelle Gemeinden aus. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts entstand so insgesamt eine heterogene Konfessionslandschaft, in der Kontakte mit der anderen Konfession zum Alltag dazugehörten – ein Umstand, der den Drei Bünden die Aufmerksamkeit der päpstlichen Kurie garantierte.
Im Veltlin und den beiden Grafschaften Bormio und Chiavenna, die seit der Eroberung von 1512 von den Drei Bünden als Untertanengebiete verwaltet wurden, scheiterte die versuchte Einführung der Bikonfessionalität am starken Widerstand der lokalen Elite, die sich auch und gerade über die katholische Konfession von der Bündner Herrschaft abzugrenzen versuchte. Daraus entwickelte sich die konfliktreiche Konstellation, dass ein von protestantischen Gemeinden dominiertes Gemeinwesen über katholische Untertanen regierte.112 1620 kam es zum sogenannten Veltliner Protestantenmord, in dessen Folge das Veltlin seine Unabhängigkeit proklamierte. 1639 wurden die Herrschaftsverhältnisse zwar wiederhergestellt, zugleich aber die protestantische Konfession im ganzen Veltlin verboten, was aus römisch-katholischer Sicht die Bündner Untertanengebiete zur letzten Bastion des Katholizismus vor dem protestantischen Norden werden ließ.113
Neben der päpstlichen Kurie zeigten auch die katholischen Großmächte ein reges Interesse an den Vorgängen im rätischen Alpenraum. Bedingt war dies zum einen durch dessen geostrategische Bedeutung: Die Bündner Pässe bildeten eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen und ermöglichten insbesondere für die Habsburger schnelle Truppenverschiebungen von den deutschen in die italienischen Reichsteile.114 Andererseits war die Intervention fremder Fürsten zu einem