Dass eine solche Verflechtungsgeschichte gerade für die Eigenheiten der katholischen Gesellschaft der Drei Bünde großes Erklärungspotenzial haben kann, zeigen die beiden eingangs erwähnten Wundertäter. Antonio Maria Laus und Francesco Maria da Vigevano wiesen zwar ganz unterschiedliche Hintergründe auf: Der eine war ein Weltpriester, der andere gehörte dem Orden der Kapuziner an; der erste stammte aus dem Bündner Südtal Misox, der zweite war Italiener und somit ein Landesfremder. Dennoch gab es ein Element, das die beiden Figuren miteinander verband: Beider Leben war geprägt vom Wechsel zwischen unterschiedlichen Lebenswelten und dem Versuch, eine Mittlerposition zwischen verschiedenen kulturellen, kirchlichen und politischen Einflusssphären einzunehmen. Antonio Maria Laus studierte ab 1636 am Collegio Urbano in Rom, trat dort dem Oratorium des Filippo Neri bei, wurde danach von der Propagandakongregation als »apostolischer Missionar« in seine Heimat beordert und wurde schließlich zum Domherrn des Churer Hochstifts ernannt.15 Er pflegte regelmäßige Briefkontakte mit dem päpstlichen Nuntius in Luzern, mit dem Sekretär der Kurienkongregation de Propaganda Fide sowie mit dem Vorsteher des römischen Oratoriums und reiste mehrere Male nach Rom, um an der Kurie persönlich die Erfolge seiner Mission im Misox zu schildern. Francesco Maria da Vigevano aus der Mailänder Kapuzinerprovinz war seit den 1630er-Jahren bis zu seinem Tod 1692 als Missionar im Oberhalbstein tätig, reiste aber zeitweilig in seine Heimatprovinz sowie nach Innsbruck und Rom, wo er an den Höfen die Anliegen der Kapuzinermission und der Bündner Katholiken zur Sprache brachte.16 Diese biografischen Fakten wären für die Fragestellung dieser Arbeit nicht weiter relevant, hätten die beiden Figuren mit ihren Vermittlungsleistungen nicht einen entscheidenden Einfluss auf die Frömmigkeitskultur in den von ihnen betreuten Gemeinden beziehungsweise Talschaften ausgeübt. Francesco Maria da Vigevano ließ in fast allen Ortschaften im Oberhalbstein neue Kirchen errichten, die er dank Spenden aus Mailand kostbar ausstattete. Er beschaffte Heiligenreliquien bei italienischen Bischöfen, gründete Laienbruderschaften und übersetzte den italienischen Katechismus von Roberto Bellarmino (1542–1621) ins Rätoromanische17. Schon zu Lebzeiten von den Oberhalbsteinern als eine heiligmäßige Person angesehen, stand er nach seinem Tod aufgrund der ihm zugeschriebenen Wunder im Mittelpunkt eines lokalen Gnadenkultes; und noch heute zeugt eine an der Frontseite der Kirche St. Martin in Savognin angebrachte Gedenktafel (Abb. 28) von der großen Verehrung, die der Kapuziner genoss. Nicht minder beliebt dürfte Antonio Maria Laus bei den Katholiken im Misox gewesen sein. Auch ihm wurde ein Lebenswandel eines Heiligen bescheinigt.18 Die Frömmigkeitskultur prägte er entscheidend mit, indem er Oratorien nach römischem Vorbild gründete, Kirchen erbaute sowie in Rom Reliquien und die beim Volk äußerst beliebten, vom Papst gesegneten und mit einem Ablass versehenen Devotionalien (Rosenkränze, Kreuzchen, Agnus Dei etc.) besorgte. Damit nahm Laus Einfluss nicht nur auf die kirchengebundene Glaubenspraxis, sondern ebenso auf die alltägliche, in den eigenen vier Wänden praktizierte Laienfrömmigkeit. Die Religiosität der Bündner Katholiken, ihre lokalspezifischen Kulte und selbst ihre individuellen religiösen (Wunder-)Erfahrungen waren folglich zu einem guten Teil mitbestimmt von den grenzübergreifenden Austausch- und Transferprozessen, welche Francesco Maria da Vigevano, Antonio Maria Laus und andere Protagonisten in Gang setzten. Anders als es die kirchenrechtliche Autonomie der Bündner und Veltliner Kirchgemeinden a priori vermuten lässt,19 machten sich auf der Ebene der gelebten Religiosität womöglich bisher nicht beachtete, weit über den lokalen Kontext hinausreichende kulturelle, institutionelle und finanzielle Verflechtungen bemerkbar. Sie und ihre Auswirkungen auf die lokale Glaubenswelt im 17. und 18. Jahrhundert sollen im Zentrum der vorliegenden Studie stehen. Ihre Untersuchung setzt eine Zusammenführung verschiedener Forschungsfelder voraus, die sich in der neueren Forschung zum frühneuzeitlichen Katholizismus etabliert haben, bisher aber weitgehend ohne gegenseitige Bezugnahme geblieben sind.
1.2. Lokale Religion, hybride Glaubensformen und der »lange Arm Roms«: Erkenntnisse und Perspektiven der Forschung zum frühneuzeitlichen Katholizismus
Während Mirakelgeschichten und andere Zeugnisse von Gebetserhörungen lange Zeit fast ausschließlich von der »religiösen Volkskunde«20 als Objekte der Forschung betrachtet wurden, hat sich das Interesse an religiösen Wundern in den letzten Jahrzehnten auch in der Geschichtswissenschaft Bahn gebrochen. Historiker haben erkannt, dass sich aus Wundergeschichten, obgleich sie stets narrativen Konventionen und Erzählintentionen folgten,21 Einsichten in die praktizierte Religiosität und die religiöse Alltagswelt frühneuzeitlicher Individuen gewinnen lassen.22 Gewichtigen Anteil an diesem neuerwachten Forschungsinteresse hatte die Auseinandersetzung mit der von Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard formulierten Konfessionalisierungsthese.23 In bewusster Abgrenzung zu deren obrigkeitszentrierten Perspektive auf die Normierung und Uniformierung religiöser Verhaltensweisen formierten sich Forschungsfelder, die den unbestrittenen (qualitativen) Wandel von Kirchlichkeit und Religiosität in der Frühen Neuzeit dort nachzuvollziehen versuchten, wo er sich tatsächlich auch praktisch bemerkbar machte, nämlich in den einzelnen Kirchgemeinden und in den Lebens- und Erfahrungswelten der Menschen.24
Diese forschungsgeschichtliche Entwicklung führte zunächst zu einem besseren Verständnis der (kollektiven) Glaubenspraxis. Für Spanien, Frankreich, Italien und den süddeutschen Raum ist aufgezeigt worden, dass veräußerlichte Formen der Glaubensmanifestation auch in der nachtridentinischen Ära allgegenwärtig waren,25 obschon im Zuge der katholischen Reform universale und verinnerlichte religiöse Wissensbestände über die orts- und objektgebundene Religiosität gestellt wurden.26 Lokalspezifische Heiligenpatronate, Festtage, Prozessionen und Bruderschaften waren nach wie vor fester Bestandteil der religiösen Kultur und gehörten zur Selbstvergewisserung kommunaler Gemeinwesen dazu. In diese kommunale Religiosität miteinbezogen wurden neben den jeweiligen Pfarrkirchen und örtlichen Heiligtümern mitunter auch Kapellen und religiöse Kleindenkmäler (Wegkreuze, Bildstöcke etc.), ferner auch die Natur, etwa in Form sogenannter »heiliger Bäume«.27 Damit prägten örtliche Besonderheiten und weit zurückreichende Kulttraditionen das religiöse Leben in den Kirchgemeinden, ungeachtet der universalisierenden Tendenzen des nachtridentinischen Katholizismus. Vor diesem Hintergrund hat man der tridentinisch erneuerten Kirche ein »Vollzugsdefizit«28, der lokalen Gesellschaft dagegen einen von der Kirchengeschichte ebenso wie von der Konfessionalisierungsforschung unterschätzten Einfluss auf die Ausbildung einer »katholischen« beziehungsweise »konfessionellen Identität«29 bescheinigt. Darüber noch hinausgehend haben Studien zur sogenannten »Volksfrömmigkeit«30 auf Formen der »Widerständigkeit«31 des »Volkes« gegen »obrigkeitlich verordneten Glaubenszwang«32 und religiöse Disziplinierung aufmerksam gemacht, sodass sich insgesamt ein Bild eines spannungsreichen Verhältnisses zwischen dem auf Gemeindeebene praktizierten Glauben und den von der römischen Konfessionskirche vertretenen Frömmigkeitsidealen ergab. Während