Forschungen zur sogenannten »inneren« (also innerkatholischen) Mission haben zunächst ans Licht gebracht, wie akribisch sich Akteure des tridentinisch erneuerten Katholizismus mit der Religiosität der ländlichen Bevölkerung in Europa auseinandergesetzt haben. Insbesondere die Jesuiten eigneten sich einen reichhaltigen Wissensbestand über lokalspezifische Glaubensvorstellungen und Frömmigkeitstraditionen an.33 Indem sie von »unseren Indianern« sprachen, deuteten sie an, dass ihnen die Glaubenswelt auf dem Lande teilweise ebenso fremd vorkam wie diejenige nichtchristlicher Religionen, die sie von den Missionen in Übersee kannten.34 Wie in China oder in Nord- und Südamerika versuchten sie bestmöglich auf die lokalen religiösen Eigenheiten Rücksicht zu nehmen, um die reformkatholischen Frömmigkeitsideale der Laienbevölkerung vermitteln zu können. Das von der Missionsforschung neuerdings vielfach besprochene Ergebnis waren hybride und synkretistische Glaubensformen, hervorgegangen aus Strategien der »Aneignung« von und »Anpassung« an lokale religiöse Traditionen.35 Vor diesem Hintergrund schien es angebracht, von einer Vielfalt des Katholischen beziehungsweise vom Christentum als »lokaler Religion«36 auszugehen und die »traditionelle Sicht einer geschlossenen, einheitlichen, von oben gelenkten […] römischen (›papistischen‹) Kirche«37 aufzugeben. Folgerichtig ist die neueste Forschung dazu übergegangen, die frühneuzeitlichen Konfessionskirchen weniger als starre, homogene Blöcke zu beschreiben, sondern vielmehr auf die Heterogenität der Konfessionskulturen38 sowie auf religiöse Grenzüberschreitungen verschiedenster Art39 aufmerksam zu machen.
Den Blick für die Lokalität und Hybridität religiöser Praktiken geschärft haben zweitens auch Studien zu katholischen Kulten, in deren Mittelpunkt charismatische, als heilig erachtete Personen aus dem nahen Umfeld standen. Wie sie zeigen konnten, gab es in der Frühen Neuzeit neben den offiziellen Heiligen- und Seligenverehrungen eine Vielzahl lokalspezifischer Personenkulte.40 Dabei lag meistens ein in der lokalen Gesellschaft verankertes, (spät)mittelalterliches Verständnis von Heiligkeit vor, das im Sinne einer »instrumentellen Heilserwartung«41 die Heiligmäßigkeit einer Person daran maß, inwiefern sie als Vermittler zum Transzendenten aufzutreten fähig war. Das entscheidende Kriterium für die Heiligkeit war nicht so sehr die tugendhafte und »christusnahe«42 Lebensführung, wie es das nachtridentinische Heiligkeitsmodell eigentlich vorsah,43 sondern vielmehr die konkrete Wirkmächtigkeit der Heilsvermittlung, etwa die Fähigkeit, mit jenseitiger Hilfe Krankheiten heilen zu können. Nach dem Tod dieser »lebenden Heiligen« war die Verehrung kaum von den kirchlich approbierten Heiligenkulten zu unterscheiden: Es zirkulierten Reliquien, die Grabstätten wurden zum Pilgerort und zuweilen fanden die entsprechenden Kultpraktiken sogar ihren Platz im kirchlich-liturgischen Rahmen.44 Trotz eines regelrechten Aktionismus unter Papst Urban VIII. (1623–1644), der strenge Richtlinien für die Verehrung heiligmäßiger Personen erließ und die Nuntien ermahnte, Missbräuche dem Heiligen Offizium anzuzeigen,45 duldete die römische Kirche solche lokalen Kulte um »im Ruf der Heiligkeit« (fama sanctitatis) stehende Figuren oft stillschweigend, sodass in der Frühen Neuzeit parallel zu kirchlich sanktionierten immer auch nicht oder nur bedingt kirchengebundene katholische Kultformen existierten.
In seiner praktizierten Form war der katholische Glaube in der Frühen Neuzeit damit stets lokal eingebettet, das heißt er orientierte sich an orts- und gesellschaftsspezifischen Frömmigkeitstraditionen, Bedürfnislagen und (religiösen) Normvorstellungen. Diese lokalen Spielarten katholischer Religiosität haben in der neueren Forschung zu Recht große Aufmerksamkeit gefunden, weil sie aufzuzeigen vermochten, dass die nachtridentinische Glaubenswelt mitnichten ausschließlich das Resultat einer obrigkeitlich initiierten religiösen Disziplinierung war, wie dies vor allem Kirchen- und Konfessionalisierungshistoriker angenommen hatten.46 Allerdings hat der eine oder andere Historiker dabei die lokalen Komponenten in der Glaubenspraxis zulasten universal-katholischer Elemente überzeichnet. Zuweilen wurde vergessen, dass in der vor Ort praktizierten Religiosität auch romgebundene Kulte und Glaubenspraktiken eine zentrale Rolle spielten. Viele frühneuzeitliche Katholiken, wie stark sie sich auch mit dem religiösen Brauchtum ihrer unmittelbaren Lebenswelt identifizieren mochten, betrachteten den Papst (in zunehmendem Maße) als oberste Instanz der kirchlichen Heilsvermittlung; den von ihm gesegneten Sakramentalien schrieben sie eine besonders hohe Heils- und Heilungswirkung zu. Eine Pilgerreise nach Rom war nach wie vor – und vielleicht sogar wie nie zuvor47 – ein anzustrebendes Ziel eines erfüllten religiösen Lebens;48 die Nachfrage nach päpstlichen Ablässen49 und römischen Katakombenheiligen50 war enorm hoch.51 Der katholische Glaube in der Frühen Neuzeit war damit nicht nur lokal eingebettet, sondern zugleich auch translokal verflochten, das heißt er war eingebunden in ein gesamtkatholisches, von Rom ausgehendes System der Heilsvermittlung, ermöglicht durch eine grundlegende »Neujustierung symbolischer Ressourcen am päpstlichen Hof«52, die sich seit dem späten 16. Jahrhundert in einem intensiver werdenden informellen und materiellen Austausch zwischen dem römischen Zentrum und den »lokalen Kirchen«53 bemerkbar machte.
Schon früher als andere Fürstenhöfe bildete die päpstliche Kurie innovative, weitgehend zentralisierte Verfahren zur Durchsetzung von Herrschafts- und Kontrollansprüchen auch über territoriale Grenzen hinweg aus. Sie tat dies, indem sie das Potenzial nutzte, das in der Doppelrolle von weltlicher Herrschaft und spirituellem Primat steckte.54 Das unter Sixtus V. (1585–1590) neugeordnete Kongregationswesen verstärkte den römischen Zugriff auf die lokalen Kirchen (zunächst in Italien), etwa mittels Prüfungsverfahren zur Ernennung von Bischöfen und strikten Dispensregelungen für deren Residenzpflicht.55 Papst Gregor XV. (1621–1623) unterstellte die weltweite Missionstätigkeit – zumindest dem Anspruch nach – der römischen Kontrolle;56 Urban VIII. (1623–1644) etablierte die 1588 gegründete Ritenkongregation als über allen Lokalkirchen stehende Autorität von Heiligsprechungen;57 und das seit 1542 bestehende Heilige Offizium wachte streng über die papsttreue Auslegung der Glaubenslehre, indem es von Rom abhängige lokale Inquisitionstribunale einrichtete58. Mit diesem institutionellen Ausgreifen in die Kirchenprovinzen hinein setzte eine kommunikative Verdichtung zwischen dem römischen Zentrum und den Außenposten der römisch-katholischen