Wenngleich also außer Frage steht, dass Rom im Verlauf des 17. Jahrhunderts den Zugriff auf die kirchliche Peripherie mit neugeschaffenen Institutionen intensivierte, sind Zweifel an der Reichweite dieser Zentralisierungsbestrebungen angebracht.63 Wie Christian Windler am Beispiel der Persienmission aufzeigt, waren die Kurienkongregationen nur dann in der Lage, ihren Suprematieanspruch auch wirklich geltend zu machen, wenn sie von den Akteuren in der Peripherie de facto angegangen wurden. Andernfalls waren die Handlungsfreiheiten weitab von Rom beträchtlich, »sogar in Schlüsselfragen der Orthodoxie und Orthopraxie«64. Der »lange Arm Roms«, um bei der Metapher von Markus Friedrich zu bleiben, vermochte sich also nur in die Kirchenprovinzen zu erstrecken, falls ihm die Akteure vor Ort – seien es Bischöfe, Missionare oder Pfarrgemeinden – die Hand dazu reichten.65 Zweckdienlich schien diesen Akteuren die Appellation an die römischen Institutionen vor allem dann, wenn sich damit die eigenen Interessen gegen den Widerstand lokaler Konkurrenten durchsetzen ließen. Analog zu weltlichen Herrschaftsverbänden schmälerte die vom Zentrum ausgehende Herrschaftsintensivierung damit die Handlungsmacht subalterner Akteure und Instanzen keineswegs, sondern eröffnete ihnen gleichsam neue Handlungsspielräume.66 Angesichts dessen ist auch für die kirchlichen Zentrum-Peripherie-Beziehungen von vielschichtigen Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Handlungsebenen auszugehen. Während in weltlichen Herrschaftsverbänden solche Verflechtungen über die Distanz vor allem personeller Natur waren,67 kannte die Papstkirche als religiöse Institution weitere Mittel der großräumigen Verflechtung. Weil ihre Wirkweisen bisher kaum bekannt sind, setzt sich die vorliegende Studie zum Ziel, die vielschichtigen Beziehungsstränge zwischen Rom als dem Zentrum der katholischen Christenheit und den lokalen Kultgemeinschaften auszuleuchten. Erkenntnisinteresse und analytisches Instrumentarium einer solchermaßen erweiterten katholischen Verflechtungsgeschichte gilt es nachfolgend zu skizzieren.
1.3. Katholische Verflechtungsgeschichte: Entwurf eines integrativen Erklärungsmodells
Katholische Verflechtungen sollen in der vorliegenden Arbeit jene Beziehungen von einer gewissen Dauer und Verbindlichkeit heißen, die mittels typisch katholischer Ressourcen die verschiedenen lokalen Glieder der römisch-katholischen Kirche zu einem erkennbaren Zusammengehörenden verbanden. Art und Intensität dieser Beziehungen lassen sich zunächst durchaus mit dem von Wolfgang Reinhard für den Kirchenstaat entwickelten Verflechtungsmodell beschreiben.68 Verflechtungen stellten sich demnach ein über personale Bindungen wie Verwandtschaft, Freundschaft, Patronage oder Landsmannschaft und verfestigten sich über materiellen und immateriellen Austausch innerhalb dieser Beziehungsnetze. Nimmt man aber das Papsttum nicht nur als Herrschaftsverband, sondern als weit über Italien hinausreichende religiöse Kultgemeinschaft in den Blick, so muss dieser personale Verflechtungsansatz um zwei wesentliche Aspekte ergänzt werden.69 Erstens muss der Bindungstyp der Patronage auch auf Institutionen ausgedehnt werden, denn auch Kurienkongregationen wie die Propaganda Fide konnten gegenüber untergeordneten Akteuren oder lokalen Kultgemeinschaften als Patron auftreten.70 Zweitens ist zu bedenken, dass die durch Einzelpersonen oder Gruppen hergestellten Verflechtungen auf der symbolischen Ebene auch über die effektive Dauer des anfänglichen Beziehungsverhältnisses hinaus wirksam bleiben konnten:71 Während personale Beziehungskanäle an die Kurie etwa für die Beschaffung von Reliquien aus den römischen Katakomben oder für die vom Papst gewährten Ablässe und Bruderschaftsprivilegien zweifelsohne unabdingbar waren, traten diese personalen Verflechtungen in der kultischen Handlung mit ebendiesen Reliquien und Ablässen in den Hintergrund. Was dabei auf lange Sicht jedoch evident blieb, war der symbolische Aspekt der Rombindung: Gerade die Ablässe machten den Einfluss Roms auch in der entferntesten Provinz deutlich, denn die Gnade des Sündenstrafennachlasses konnte nur der Papst gewähren, entsprechende Ablässe ausstellen nur die von ihm dazu eingesetzten Kirchengremien.72 Diesbezüglich haben wir es also mit spezifisch katholischen Formen der Verflechtung zu tun, die im ekklesiologisch-theologischen Profil der tridentinisch erneuerten Kirche73 begründet lagen: In ihrer heilsvermittelnden Position bestätigt, verfügte die nachtridentinische Kirche über einen reichen Schatz an Gnadenmitteln (Thesaurus ecclesiae), mit dessen Hilfe sie in der Lage war, die verstreuten Kultgemeinschaften in die katholische Gesamtkirche einzubinden. Diese Vorgänge der Verflechtung, die daran beteiligten Akteure sowie die Auswirkungen dieser Verflechtungsprozesse auf die lokalen Kultgemeinschaften werden in der vorliegenden Studie untersucht.
Eine katholische Verflechtungsgeschichte, wie sie mit der vorliegenden Arbeit geschrieben werden soll, kommt dem Versuch gleich, die in der neueren Forschung vor allem in ihren lokalen Zusammenhängen untersuchten »Frömmigkeitskulturen«74, verstanden als Ensemble von Glaubensvorstellungen, Glaubenspraktiken und materieller Kultur, in ein integratives Erklärungsmodell einzupassen. Integrativ soll das Erklärungsmodell aus zwei Gründen heißen:75 Auf der analytischen Ebene sollen erstens kulturgeschichtliche Betrachtungen zur lebensweltlichen Bedingtheit von Religiosität zusammengeführt werden mit bisher an Außen- und Herrschaftsbeziehungen erprobten Beschreibungen von grenzüberschreitenden »Interdependenzgeflechten«76 (Integrativ I). Zweitens wird auf einer inhaltlichen Ebene von einer sich durchaus auch räumlich manifestierenden Integration lokaler Kultgemeinschaften in ein von Rom ausgehendes, gesamtkatholisches System der Heilsvermittlung ausgegangen (Integrativ II). Aus dieser doppelten Fokussierung ergeben sich Konsequenzen für die Anlage der Studie, die es in den nachfolgenden Abschnitten zu erläutern gilt.
Integrativ I
Der Rahmen der Untersuchung ist insofern eng gesteckt, als letztlich die Grundtendenzen des kirchlich-religiösen Lebens und Erlebens in einem geographisch kleinräumigen Gemeinwesen im Alpenraum im Zentrum stehen. Um diese lokale Glaubenswelt besser zu verstehen, genügt es jedoch nicht, nur nach den lokalspezifischen Traditionen und den lebensweltlichen Kontexten zu fragen: Studien insbesondere aus dem Forschungsfeld der neueren Missionsgeschichte haben nämlich gezeigt, dass katholische Glaubensformen in der Frühen Neuzeit stets sowohl von lokalen Kultpraktiken als auch von den innovativen Frömmigkeitsstilen der tridentinisch erneuerten Kirche geprägt waren. Über die lokalen Zutaten dieser Mischformen weiß die historische Forschung recht viel, zumal mehrfach schon rekonstruiert wurde, an welche lokalen religiösen Weltbilder sich Jesuiten, Kapuziner oder andere katholische Reformakteure anpassten.