Eine solche Fragestellung verlangt einen Untersuchungsgegenstand, mit dem sowohl lokale Praktiken des Sakralen als auch die römisch-katholische Kirche als heilsvermittelnde Institution ins Blickfeld geraten. Möglich wird dies mit den sogenannten »Gnadenorten«, mit jenen Kirchen und Kapellen also, »bei denen Gebetserhörungen dokumentiert sind durch Votiv- und Weihegaben oder Mirakelbilder, -bücher, -protokolle, [und] auch Ablasstermine«80. An Gnadenorten manifestieren sich individuelle Erfahrungen mit dem Sakralen, was noch etwas deutlicher aus den äquivalenten französischen und italienischen Begriffsbildungen »sanctuaire« und »santuario« hervorgeht.81 Ein »Heiligtum«, oder eben ein »santuario«, zeichnet sich demnach aus durch eine außergewöhnliche Qualität des Sakralen82, die bezeugt ist durch Wunder, die dort geschehen oder dokumentiert sind. Ein »santuario« wird von den Menschen aus freien Stücken83 und mit einem ganz bestimmten Ziel aufgesucht,84 meistens »in der Hoffnung, dass sich ein Wunder manifestiert«85, oder aus Dankbarkeit für eine bereits erfahrene Gnade.86 Die Dokumentationen von Gnadenorten geben folglich Aufschluss über die individuellen Beziehungen der Gläubigen zum Transzendenten, über die religiösen Praktiken, mit denen diese Beziehungen eingegangen, aufrechterhalten und aktualisiert wurden, und nicht zuletzt über die Heils- und Heilungsbedürfnisse der Menschen.87 Gleichzeitig werden an Gnadenorten kirchliche Umgangsformen mit dem Sakralen sichtbar. Viele Gnadenorte wurden von Ordensgeistlichen errichtet, betreut und mit Wundern beworben.88 Darüber hinaus waren die größeren unter ihnen mit von Rom gewährten geistlichen Privilegien, allen voran mit Ablässen, ferner mit Reliquien römischer Märtyrer oder mit Zweigstellen römischer Erzbruderschaften ausgestattet.89 Gnadenorte sind daher, wie Alexandra Walsham betont, nicht nur aus heutiger Sicht als Schnittstellen zwischen der vor- und der nachtridentinischen Religiosität zu betrachten, sondern sie wurden bereits von den Vorkämpfern der katholischen Reform dazu benutzt, um die instrumentellen Heilserwartungen älterer Formen von Kirchlichkeit in das reformkatholische Kultangebot zu integrieren.90 Sie eignen sich deshalb besonders gut, um die Eingebundenheit lokaler Glaubenswelten in die römisch-katholische Gesamtkirche zu untersuchen.
Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, eine Geschichte der Gnadenorte im rätischen Alpenraum zu schreiben. Es soll nicht um die historische Entwicklung einzelner Gnadenorte, auch nicht um ihre Stellung innerhalb der lokalen Kirchenorganisation gehen.91 Vielmehr dienen die vielen Gnadenstätten in den Drei Bünden und im Veltlin als Ausgangspunkt für die Untersuchung lokaler, aber trotzdem in weiträumige Bezugssysteme eingebundener Kultpraktiken. Was diese Kultpraktiken anbelangt, so haben die Quellenrecherchen ergeben, dass die Gnadenorte als Orte der Wunderbezeugung zwar von zentraler Bedeutung waren, darüber hinaus sich aber die Gnadenerlebnisse und die mit ihnen verbundenen religiösen Handlungen größtenteils in der alltäglichen Lebenswelt abspielten. In Anbetracht dessen muss das gehäufte Aufkommen und die »ausgesprochen dezentrale Struktur der Gnadenorte«92 im rätischen Alpenraum seit der Zeit um 1600 auch mit Veränderungen in der räumlichen Konzeption von Sakralität93 zu erklären versucht werden.
Integrativ II
Die Blütezeit der Gnaden- und Wallfahrtsorte von ca. 1600 bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert,94 die zugleich den Untersuchungszeitraum dieser Studie absteckt, fiel bezeichnenderweise mit dem »Auftreten neuer Vorstellungen der Beziehungen zwischen Himmel und Erde«95 zusammen. Dieser Wandel im religiösen Weltbild machte sich, so eine der Hauptthesen der vorliegenden Studie, in einer zunehmenden sakralen Durchdringung der Lebenswelt bemerkbar: Im Verlaufe des 17. Jahrhunderts griff die Sphäre des Sakralen96 über die Gotteshäuser hinaus, was individuelle Erfahrungen mit dem Transzendenten auch im Alltag möglich machte. Wir haben es hier mit einer räumlichen Konzeption von Sakralität zu tun, die aus der »Katholischen Reform«97 hervorging und die auf der Vorstellung beruhte, dass sich (überall) innerhalb der katholischen Einflusssphäre ein besonderes Beziehungsfeld zwischen Himmel und Erde aufspannt, in dem Gott erfahr- und erlebbar wird. Räume waren und sind, wie die neuere sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung mit Nachdruck betont, keine physischen Tatsachen, sondern sie sind als sozial generiert und praktiziert zu verstehen.98 Vorstellungen und Wahrnehmungen von Raum formieren sich nach zeittypischen Ordnungsvorstellungen und in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten.99 Räume können, müssen sich aber nicht entlang geographischer oder politischer Demarkationslinien entfalten. Folglich ist es naheliegend, dass auch die römische Konfessionskirche mit ihrer theologisch-dogmatischen Weltsicht und ihrer hierarchischen Ordnungsstruktur ein ihr eigenes Raumverständnis aufwies und Räume konstituierte, die sich über alle lokalen Kirchenglieder hinweg erstreckten.100 Wir werden im Verlaufe der Untersuchung sehen, dass die Sakralität, also die sicht- und erlebbare Präsenz des Göttlichen auf Erden, ein konstitutives Element dieser reformkatholischen Raumauffassung war: Nur dort, wo die heilsvermittelnde Kirche präsent war, konnte sich ihr zufolge das Eingreifen Gottes in die Welt manifestieren, sodass von Gott bewirkte Wunder implizit das Gnadenterritorium beziehungsweise den Einflussbereich der Papstkirche absteckten. Es ist daher sinnvoll, sich die in der Zeit nach dem Konzil von Trient angestrebte Einbindung »kirchlicher Peripherien«101