Johannes zeigt deutlich: Wer einmal diese unmittelbare Kraft der Barmherzigkeit in seinem Innersten entdeckt hat und zum Leben hat kommen lassen, der kann nicht mehr anders, als dementsprechend das Handeln und Denken zu gestalten. Ein anderes Wort des Heiligen bringt die Verbindung eines solchen Herzens mit Christus: „Ich vertraue allein auf Jesus Christus, denn er kennt mein Herz“. Walter Nigg schreibt einfühlsam: „das Herz bildet den ersten Personenkern; es ist das wahre Selbst und es ist das Organ, das Gott spürt“ (Nigg 1985, 29). In diesem Zentrum seiner selbst lässt sich Johannes vom Leiden Christi und vom Leid der Menschen „stigmatisieren“.6
Im Bekehrungsprozess erfährt Johannes hautnah die Leiden einer anderen Menschengruppe: die der psychisch Kranken. Die Umkehr kann für Johannes nicht gründlicher und krisenhafter sein. Nicht von ungefähr verwenden manche Biographen das Bild des pfingstlichen Feuers, eines wilden Feuers, das ihn „bis ins Innerste durchglüht, gehämmert, und neu geformt“ hat.7 Die Unruhe seines bisherigen Lebens, die immer wieder neue Abenteuer gesucht hat, bricht nun geballt aus ihn heraus und zerbricht ihn gleichzeitig. In dieser Situation des Irr-Sinnes ist Johannes allein, unverstanden und isoliert, wie er auch später zumindest anfangs in der Verwirklichung seines neuen Sinnes allein sein wird.
Die Leute von Granada reagieren entsprechend, nicht bösartig, sondern eben, wie sie es gewohnt sind bei solchen Tobsüchtigen. Sie bringen ihn in das königliche Spital und dort in die Abteilung für die Geisteskranken. Dadurch wird er vor sich selber, aber auch vor dem Pöbel beschützt, der ihn verschimpft und verlacht.
Johannes kommt in direkten Kontakt mit denen, für die er später da sein wird, aber zuerst einmal als Mitbetroffener selbst. Und er erfährt am eigenen Leib, wie mit Geisteskranken umgegangen wird: in großen Räumen zusammengepfercht, ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit der Krankheiten, in Akutzuständen gefesselt und in Zellen gesperrt, geschlagen, mit Schreckensbildern, Teufelsaustreibungen und Ketten traktiert. (vgl. Cruset 1967, 111) Trotzdem: Johannes kommt in dieser traurigen Umgebung zur Ruhe, es geht im allmählich besser und es wird ihm gestattet, sich frei zu bewegen und bei der Pflege und bei den Arbeiten im Hause mitzuhelfen. In dieser Zeit des direkten Zusammenlebens und Umgangs mit unterschiedlichen kranken Menschen klärt sich bei ihm sein künftiges Leben.
Am Ende findet seine tiefe Krise eine ganz einfache Lösung: den Kranken und den Armseligsten zu helfen und sie zu pflegen. Er weiß, dass er diesbezüglich von den Reichen und Mächtigen abhängig ist. Er braucht ihre Almosen. Beides also nimmt er in die Hand: das Betteln für seine Kranken und ihre Pflege. „Die neue und rettende Tat des Johannes von Gott bestand darin, dass er seine Krankenpflege auf dem Prinzip des Bettelordens aufbaute.“ (Nigg 1985, 36) Nicht von ungefähr verstand sich Johannes von daher selbst als ein Tertiar des Franziskanerordens. Das ursprüngliche Ordenswappen zeigte denn auch die Utensilien eines Sammelbruders (Reisestab, Tasche und Sammelbüchse): das Signet für die von Anfang an realistische und offensive Einstellung, dass man sich bei den Reichen holen muss, was man für die Bedürftigen braucht.
Eine beträchtliche Zeit ist Johannes ziemlich alleine mit dieser Doppeltätigkeit des Bittens und des Pflegens. Bereits 1539 kann Johannes ein Haus anmieten und dort sein erstes Hospital einrichten. Zunehmend finden sich Männer ein, die bei der Krankenpflege mithelfen. Dann gesellen sich erste Jünger zu ihm, die wie er und zusammen mit ihm insgesamt ein solches Leben in der Nachfolge Jesu auf sich nehmen möchten. Erst als es mehrere solcher „Gruppen“ auch in anderen Städten Spaniens und darüber hinaus gab, wuchs das Bedürfnis einer überregionalen innerkirchlichen Anerkennung. 1571 wurden sie vom Papst als Kongregation autorisiert und der Regel des Hl. Augustinus unterstellt. Papst Sixtus V. erhob diese Kongregation dann 1586 in den Rang eines Ordens: der „Barmherzigen Brüder“.
Johannes sucht eine anspruchsvolle Spiritualität: „Dienen wir dem Herrn nicht wegen der Glorie, die er denen gegeben wird, die ihm gedient haben, sondern einzig wegen seiner Liebe zu uns“. Hier kommt zum Ausdruck, was er offensichtlich in seiner Bekehrung zutiefst begriffen hat. Die Begegnung mit Gott und auch mit Menschen kann nicht durch ein „wenn und aber“ verdinglicht werden, sondern hat ihre Authentizität gerade darin, dass sich die Beteiligten unverstellt und unmittelbar annehmen. Johannes begegnet Gott, insofern er sich (als Sünder!) von ihm unbedingt geliebt weiß (da wird die Frage unsinnig, was er „dafür bekommt“). Und: Johannes ist mit der gleichen Unbedingtheit auf der Seite der Armen und Kranken; ohne „wenn und aber“ geht es um die heilende und teilende Begegnung mit diesen Menschen. Es zeigt sich deutlich, wie sehr Gottes- und Nächstenliebe zusammenhängen.
Johannes lebte von einer unmittelbaren und konkreten Christusfrömmigkeit her, in der Glaube und Handeln sich zu einer untrennbaren Einheit verbanden. Denn er glaubte an jenen Jesus, der in den Geschichten der Evangelien den Armen und Kranken begegnet ist und sie leiblich und seelisch heilte. Diesem Jesus will er „stets gefallen und dienen“. Dieses Wort von ihm eröffnet aber zugleich die andere dementsprechende Seite seiner Jesusfrömmigkeit: er dient Jesus nicht nur indirekt dadurch, dass er seinem Vorbild nachahmt, sondern direkt darin, dass er ihm unmittelbar in den Armen und Kranken begegnet. Sein einfach-praktisches Bibelverständnis erlaubt es in keiner Weise, dass er die Selbstidentifikation Jesu mit den Fremden und Kranken (in Mt 25, 35-40) nur übertragen, metaphorisch oder symbolisch verstehen könnte. Er versteht diese Identifikation Jesu mit den Leidenden durch und durch realistisch und drastisch. Anders hätte sich sein Glaube nicht in dieser unmittelbaren Weise mit der Wirklichkeit der Leidenden verbunden.
Der spirituellen Begegnung mit dem im Gottesdienst real präsenten Christus entspricht in gleichstufiger theologischer Dignität seine diakonische Realpräsenz in der Begegnung mit Leidenden. Die helfende und politische Diakonie ist nicht (nur) eine ethische Konsequenz der Christusbeziehung, sondern ihr zentraler Vollzug! Die „Option für die Armen“ ist das „Herzstück“ der Christopraxie. Die Weihe an Christus entlässt aus ihrem Zentrum heraus die Nachfolge Jesu zum Heil und zur Befreiung der Menschen.
Johannes verändert den Krankendienst selbst: Sie werden je nach ihrer Krankheit voneinander abgesondert und verteilt und nicht unterschiedslos, meist in gemeinsamen Betten zusammengelegt. Jede(r) Kranke bekommt ein eigenes Bett; peinlich wird auf Sauberkeit geachtet. Johannes begründet einen neuen Umgang mit geisteskranken Menschen: Er rückt heftig ab von der Ideologie der Besessenheit und entdeckt darin eine Krankheit des Gemütes und des Kopfes. Seine Behandlung kommt aus der Haltung der Barmherzigkeit, insbesondere das liebevolle Gespräch wird zum Medium seiner Therapie. Hermenegild Stromayer fasst die Krankenreform des Johannes folgendermaßen zusammen: „Jedem Kranken sein Bett! Getrennte Krankenstationen! […] Aufnahme aller Armen und Kranken ohne Unterschied der Religion, Nation und Rasse! Behandlung des ganzen Menschen: Leib und Seele!“ (Stromayer 1978, 18).
Weil der Mensch im Mittelpunkt steht, geht es nicht nur um eine partielle Hilfe an den Stellen, wo er Schmerzen bzw. Not leidet: vielmehr wird der ganze Mensch ernst genommen, auch und gerade mit seiner Suche nach unendlicher liebender Anerkennung. Cruset schreibt: „Er spricht mit ihnen über Gott“8. Immer geht es ihm um diesen Zusammenhang: „Heilt die Kranken und verkündet das Evangelium!“ Hier öffnet sich das Heilen zum Heil. Darin gründet die Verpflichtung des Ordens zur sozialen und apostolischen Tätigkeit.
Das Apostolat ist strikt an die soziale Tätigkeit gebunden und entfaltet sich erst auf ihrem Boden als unmissverständlicher Glaube an den Gott, der tatsächlich die Liebe ist. Johannes fragt deshalb auch nicht nach Religion und Herkunft. Sein soziales Handeln nimmt Maß an der universalen Liebe Gottes selbst. Und genau diese Tätigkeit wird zum vorzüglichen Ort, von diesem Gott zu sprechen. Bei der Beerdigung des Johannes sind auch trauernde Muslime hinter seinem Sarg mitgegangen, „weil Johannes von Gott in seiner Krankenpflege nie einen Religionsunterschied gemacht hatte“ (Nigg 1985, 36). Derart war Johannes von Gott ein Kirchenreformator ersten Ranges!
Literatur
Bechmann, U., Der Weltgebetstag der Frauen – Praxis interkonfessioneller Arbeit, in: Diakonia 25 (1994), 125-130.
Coudenhove, I.F., Gespräch über die Heiligkeit. Ein Dialog um Elisabeth von Thüringen, Frankfurt a.M. 71933.
Cruset,