Mit Norbert Mette weiß ich mich in diesem Kampf für die praktische Vereindeutigung des christlichen Glaubens zugunsten aller Menschen und Völker intensiv verbunden: wie zum Beispiel in der Auseinandersetzung um die theologische Bedeutung der Diakonie in Kirche, Theologie und Pastoral, wie in der bereits von Norbert Mettes Lehrer Adolf Exeler begonnenen und von Norbert Mette begegnungsbezogen und konzeptionell intensivierten komparativen Pastoraltheologie insbesondere im Horizont lokaler und weltweiter Theologien der Befreiung. Man kann sich im deutschsprachigen und vermutlich im ganzen europäischen Bereich kaum eine Person innerhalb der Theologie vorstellen, die so konsequent, nachhaltig und unbeirrbar für jene Reformation des christlichen Glaubens gekämpft hat, wie ich sie hier gegenüber dem bisherigen Reformationsverständnis genauso in die Mitte stellen möchte, wie Jesus die Kinder und den behinderten Menschen in die Mitte gestellt hat. Norbert Mette hat sich in dieser Reformationsgeschichte um eine entscheidende und für die Zukunft ausschlaggebende Wegstrecke verdient gemacht.
Bekannte und vergessene Reformationsgeschichte(n)
Nimmt man diesen Maßstab für den kirchlichen bzw. christlichen Reformationsbegriff ernst, dann erscheinen alle kirchengeschichtlichen Reformationen, die sich nur auf den Glaubensbereich beziehen, als ungenügend reformatorisch. Auf diesem Hintergrund muss man die kirchliche Reformationsgeschichte eigentlich neu schreiben.
Der Wartburgreformator des 16. Jahrhunderts verblasst dann gegenüber der Reformatorin, die ca. 300 Jahre vorher auf der Wartburg lebte: nämlich die Heilige Elisabeth von Thüringen. Sie heilt das Verhältnis von Glaube und Existenz in einer ganz bestimmten kompromisslosen Weise. Und sie steht für ähnliche Menschen und Begegnungen in dieser Zeit (für die Armutsbewegungen, die Bettelorden, vor allem für den Aufbruch eines Franz von Assisi) und überhaupt in der Kirchengeschichte. Viele wären als solche Reformatoren und Reformatorinnen erst noch zu entdecken und auszuzeichnen.
Martin Luthers Reformation bezog sich weitgehend auf den Glaubensdiskurs, also gewissermaßen auf einen ideologischen Konflikt, zwar auch hier mit entsprechenden praktischen Konsequenzen und vor allem mit den politischen Erfolgen in der damaligen Machtkonstellation und auf dem Hintergrund der explodierenden Massenmedien. Aber gerade darin (Buchdruck!) ging es hauptsächlich um das Wort. In der Frage nach dem universalen Heil und der bedingungslosen Diakonie allen Menschen gegenüber stand Luther allerdings in seinem Exklusivismus der alten Kirche in nichts nach, nun allerdings nicht mehr mit kirchen-, sondern mit glaubensbezogenen Grenzziehungen.
Sein etwas früherer spanischer Zeitgenosse Johannes von Gott (der Begründer der barmherzigen Brüder) war ihm da in Granada genauso voraus wie Jahrhunderte vorher Elisabeth von Thüringen. Das Gütezeichen des Reformatorischen also, nämlich dass der Glaube wieder eine bestimmte, zu ihm gehörige authentische praktische Vollzugsform (zurück)gewinnt, ist auf Luther nur fragmentarisch, jedenfalls nicht programmatisch zu beziehen. Auch die protestantische Freiheitsdynamik bleibt „Christenmenschen“ vorbehalten, ereignet sich also als entsprechende Diakonie in der christlichen Gottesbeziehung und damit im Bereich des Glaubens. Selbstverständlich gilt Luther für die europäische Folgegeschichte als historisch höchst relevanter christlicher Reformator, aber theologisch fehlt an dieser Historie dann doch etwas Entscheidendes, das dann auch keine eigene Geschichtsdynamik entwickeln konnte.
Nichts sei gegen Luthers Auseinandersetzungen und Entdeckungen im Glaubensvorgang selbst gesagt, vor allem hinsichtlich seiner Gnadentheologie, der ich sehr viel für meine eigene Theologie verdanke. Aber es gibt demgegenüber die Einsicht des evangelischen Exegeten Ernst Käsemann: Gnade, die nicht tätig ist, ist Einbildung. Der berechtigte Kampf Luthers gegen Werkgerechtigkeit hatte gleichwohl den Schatten, den Glauben wichtiger zu nehmen als die Praxis. Doch sind die Lohnmetaphern in den Evangelien nicht einfach zu übersehen, in denen ein ganz bestimmtes Verhältnis zwischen hiesigen solidarischen Werken (vgl. Mt 25) und künftiger Reaktion Gottes auf die Menschen im Gericht hergestellt wird. Gott ist es also nicht gleichgültig, wie wir hier de facto leben.
Für beides gilt, für Glaube und Werke, und das ist der eigentliche Einspruch Luthers, dass sich diesbezüglich die Menschen keinen Selbstruhm einbilden können und dürfen. Denn beides ist immer zuerst Geschenk und Gnade, und erst dann von daher ermöglichte Eigentätigkeit der Menschen.
Die lauten historischen Geräusche übertönen die tatsächlich diakonietheologisch dürftige Reformation der protestantischen Reformation. Und die wirklichen Reformationen benötigen in Zukunft einen Anschluss an starke kirchliche und gesellschaftliche Lautsprecheranlagen, nicht um einer integralistischen christlichen Identität willen, sondern um der humanisierenden Zukunft der Menschheit und eines für alle Menschen befreienden Gottes willen.
Schaut man mit diesem kritischen Blickwinkel auf die Geschichte der Kirchen, entdeckt man zugleich, wie sehr es in fast allen Zeiten und an fast allen Orten neben den dominanten Entwicklungs- und Reformationslinien immer auch diakoniereformatorische Traditionen und Wirklichkeiten gegeben hat, manchmal oft nur am Rande, geduldet und manchmal auch bekämpft oder auch angenommen, angeeignet und integriert. Mit einer großen Siegergeschichte können sie von ihrem Wesen her kaum aufwarten. Und dabei sind es vor allem oft christliche Frauen, die durch die Geschichte hindurch diese Reformation für ihre Zeit und bezogen auf die entsprechenden Nöte der Menschen eingeklagt und selbst gelebt haben: von den caritasorientierten Frauenorden und Frauenkongregationen bis hin zum Weltgebetstag der Frauen. (vgl. Hiller 1999; Bechmann 1994; Frauen bewegen Ökumene 1998; Deutsches Weltgebetstagskomitee 1995) Gab es früher eine ideengeschichtliche Sicht der Kirchengeschichte, die längst durch milieugeschichtliche und kultursoziologische Perspektiven abgelöst ist, weil im Horizont von Ideen allzu leicht die Schicksale darin nicht vorkommender Menschen übersehen werden, so benötigen wir für eine pastoraltheologisch interessierte Kirchengeschichte praxisgeschichtliche Forschungen im Sinne der christlich-reformatorischen Fragestellung nach dem authentischen Verhältnis von Wort und Tat, von Glaube und Solidarität. (vgl. Fuchs 2002; ders. 2008a)
Aus dieser Perspektive kann man das Zweite Vatikanum als einen solchen diakonisch-reformatorischen Prozess ansehen, weil hier in dogmatischen Konstitutionen die Frage nach der Erfahrbarkeit des Glaubens erörtert wird. Es durchgehend um die Verbindung von Wahrheit und Lebensrelevanz, von Glaube und Erfahrung, von Wort und Tat, von Sakrament und Lebensvollzug geht. Dogma und Pastoral kommen eine gegenseitige Erschließungskraft zu, die es nicht mehr erlaubt, die Pastoral als Anwendung des „Eigentlichen“ einzustufen. Sie gehört selbst zum Eigentlichen. Und alle Gläubigen sind zu dieser Pastoral berufen. In der Pastoral, also in Glaube, Verkündigung und Diakonie der Kirche und der Gläubigen nach innen und nach außen bewahrheitet sich die Identität der Kirche. Ohne diese Praxis ist die Lehre (und das Ja dazu) nur eine „klingende Schelle“ (Lutherübersetzung von 1 Kor 13,1) bzw. eine „lärmende Pauke“ (Einheitsübersetzung).
Die Wartburger Reformatorin Elisabeth
Von der Heiligen Elisabeth war die Rede. (vgl. Fuchs 2009) Warum als Reformatorin der Diakonie? Der Historiker Otto Gerhard Oexle schreibt zu diesem neuen Typus: „Der Vorwurf […] der Geistesgestörtheit, dem Elisabeth sich ausgesetzt sah, weist darauf hin, dass sie einem neuen Typus exemplarischen Lebens zuzuordnen ist, der erst um 1200 in Erscheinung trat und auch erst zu diesem Zeitpunkt in Erscheinung treten konnte: es ist jener Mensch, der sich aus religiösen Gründen zum ‚Idioten’ (Idiota) macht, wobei in diesem Wort sowohl die Unwissenheit und der Verzicht auf geistiges sich Geltendmachen gemeint ist als auch überhaupt der Verzicht auf gesellschaftlichen Rang“ (Oexele 1993, 80f).
Elisabeth von Thüringen (1207-1231) ist eine Heilige, nicht, weil die anderen Gläubigen Unheilige wären, sondern weil sie es mit ihrer Heiligkeit auf die Spitze getrieben hat.2 Sie ist ein Extremfall christlicher Existenz: „sie ist die Übertreibung des Menschen Elisabeth, ist Elisabeth im Extrem, ausgeschöpft und gewagt bis in ihre letzten Wesensmöglichkeiten“. Die Heilige ist sozusagen „die höchste Steigerung