Versuch einer Konflikthypothese: Spannungen durch das System
Die aktuellen Spannungen in der Innenarchitektur unserer Kirche und der ungeheure Realitätsverlust des Systems sind wohl folgendermaßen zu diagnostizieren. Die vorhin genannten Schritte der katholischen Kirche seit dem II. Vatikanischen Konzil belegen, dass die Kirche sich in einer differenzierten und pluralistisch gewordenen Zivilgesellschaft im Konflikt mit sich selbst befindet sowie in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Was ist damit gemeint? Die Kirchenverständnisse und die Vorstellungen über die Kirche haben sich intern vervielfacht und atomisiert. Diese dynamisierenden Bewusstseinsschübe haben den früher monolithischen Binnenraum der Kirche enthärtet und selber pluralisiert. Vervielfacht haben sich gleichzeitig die Konzepte des pastoralen Handelns bis hin zu verschiedenen Kategorien von Spezialseelsorge entwickelt, obwohl auch diese letztlich Normalseelsorge sind. Zudem: in den letzten Jahren sind – unter dem Druck des Priester- bzw. Personalmangels und infolge des Geldmangels – auch die früheren kirchlichen Sozialformen neu in Bewegung gesetzt und strukturiert worden wie z.B. Pastoraler Entwicklungsplan im Bistum Basel, die Lebensraumorientierte Seelsorge im Bistum St. Gallen, die Sektorenpastoral im französischsprachigen Raum, Pastoralräume, Seelsorgeeinheiten, Pfarrverbände im deutschsprachigen Bereich und nicht zuletzt die Hilfswerke, die Präsenz als Bahnhofs-, Flughafen-, Einkaufszentrum-Kirche oder City-Kirche usw. Aber nicht nur die Kirchenbilder, nicht nur die Seelsorgekonzepte und die pastoralen Sozialformen haben sich enorm verändert und sich dem gesellschaftlichen Kontext angepasst, sondern auch das kirchlich-pastorale und theologische Betriebspersonal. Und dies greift sozusagen intim in das hierarchische Selbstverständnis unserer Kirche hinein.
Es hat sich somit innert weniger Jahrzehnte so viel gewandelt, ohne das Wesentliche zu verlieren, dass das alltägliche Gesicht der Kirche meiner Jugendzeit heute kaum mehr auszumachen ist. Allerdings – und dies spitzt die Konflikthypothese zu – : alles hat sich differenziert und professionalisiert und der Kirche ein verändertes Profil beschert; nur einzig und allein das kirchenrechtliche Gewand bzw. die geschichtlich entfaltete Organisationsform der Kirche ist vorkonziliar stehen geblieben. Dieses klerikal-hierarchische System wird in seinem geradezu feudalistischen Zuschnitt eher wieder forciert. Die kanonische Kirche ist für das inzwischen üppig Gewachsene viel zu eng geworden. Was sprießen und leben will, möchte sich entfalten und beansprucht Lebensraum. Dadurch werden bemühende Konflikte erzeugt. Regelverstöße, Druck von unten und schismatisierende Selbsthilfe werden geradezu provoziert. Am meisten bedrängt aber die Mutlosigkeit und Resignation der Enttäuschten mit viel gutem Willen. Für die Geduld mancher ist der Weg zu lang und zu mühsam geworden. Die sozusagen amtliche Kirche riskiert vieles, was pastoral eigentlich zu retten wäre, wenn wir z.B. allein an den Reichtum des sakramentalen Lebens denken, der durch den sog. Priestermangel bedroht ist. Oder haben wir Gesetze, wonach Gemeinden bzw. Pfarreien sterben müssen? Es ist eine pastorale Chaostheorie zwischen Realität und Botschaft aufgetragen, die nicht leicht sein wird, vor allem für jene nicht, die für den Zusammenhalt der Kirche geradestehen und oft in unbarmherzigen Spannungen ausharren müssen. In Kurzform: Reformen des Systems sind angesagt. Sie sind verantwortlich in die Wege zu leiten, Reformen, die pastoral notwendig und theologisch möglich sind. Es hilft alles nichts und heilt noch weniger, wenn sich das klerikale System dauernd gegen die gewachsene Modernität im eigenen Hause und gegen die Unverwüstlichkeit (Vitalität) der eigenen Basis stemmt und sich daran wund reibt. Der binnenkirchliche Kulturkampf des Systems mit der Modernität in den eigenen Reihen verliert sich im Zweitrangigen und verschleudert die so vielen kostbaren menschlichen Ressourcen.
Reformen als Erneuerung aus der spirituellen Tiefe heraus
Kirche ist nicht nur funktionales System, sondern aus vielen Menschen auch Gemeinschaft im Glauben. In dieser Unterscheidung der beiden Pole, die nicht zu trennen sind, liegen auch Hinweise auf Heilungsressourcen. Das kanonische System der Kirche ist eine geschichtliche Größe von Menschenhand. Es ist nicht selbst das Heil. Vielleicht verrät sich hinter all den Kirchenkrisen und dem moralischen Grounding durch die Missbrauchsfälle so etwas wie eine indirekte Pädagogik Gottes. Ist eventuell zu lernen, auf die Botschaft Jesu von einem Gott, der den Menschen in Liebe nahe ist, alle Karten zu setzen und nicht zuerst auf die institutionalisierte Kirche mit all dem Reichtum ihrer „Heilsmittel“. Ein unbewegliches System der Kirche darf nicht suggerieren, dass Gott und Mensch nur dann eine Chance haben, wenn dieses System mit seiner Doktrin, seiner Disziplin und seinen pastoralen Instrumenten dazwischentritt. Die Chance der Kirche ist einzig und allein die Erneuerung aus ihren spirituellen Quellen auf der Basis der biblischen Botschaft. So wäre es auch beunruhigend, wenn in Reaktion auf die Skandale der jüngsten Zeit die institutionelle Kirche nur mit strukturellen Verbesserungen der Verfahrensregeln reagierte und sich nicht dem öffnete, was Gott der Kirche heute sagen und bedeuten möchte. Darin liegt die vielleicht verborgene Chance in den gegenwärtigen Querelen.
Nicht nur Schatten, sondern auch Licht
In dieser Situation scheint wichtig, Kirche als Glaubensgemeinschaft und als geschichtlich gewachsene Organisation mit ihrem kanonischen System zu unterscheiden. Es wäre zu einfach, mit der berechtigten Kritik an der Kirche bzw. an ihrem System sich von der Kirche als Glaubensgemeinschaft zu verabschieden. Ich würde als einzelner schnell verdummen sowie seelische und spirituelle Energien verspielen, wenn ich mich aus der Erfahrungsnähe zu einer solchen weltweiten Interpretationsgemeinschaft des Glaubens abkoppeln wollte. Menschlich würde man sich letztlich auch selbst betrügen. Denn mit Hinweis auf das unideale System der Kirche kann man sich nicht aus der Eigenverantwortung stehlen und sich schenken, im Christsein selber erwachsen zu werden, zu meinen möglichen Anteilen solidarisch mitzugehen und sich selbst und andere dabei auszuhalten. Wenn immer es um das Entscheidende im Leben geht, bezahlt man mit sich selber, auch in seiner Glaubensbiographie.
Zudem ist nicht zu übersehen: Unsere Kirche ist mit den anderen Kirchen zusammen eine zweitausendjährige auf der Basis der jüdischen Tradition aufbauende Interpretationsgemeinschaft der Botschaft Jesu und der Impulse für die praktische Nachfolge in seinem Geiste. Trotz aller historischen Veruntreuungen ist dies auch eine ungeheuer reiche Weisheits- und Solidaritätsgeschichte, auch wenn dies in unserer medialen Öffentlichkeit nicht die verdiente Beachtung findet. Zudem ist das institutionelle Gewand unserer Kirche ein weltweit bis in die territoriale (Pfarrei-)Struktur hinein organisiertes System, das als Solidaritätsverband kein vergleichbares Pendant in der Welt findet… Denken wir auch an die übernationale Bedeutung einer moralischen Instanz wie das Papsttum, wenn der Papst vor der UNO und in den Medien für Menschenrechte, gegen Gewalt und Krieg sowie gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit eintritt. Ungeachtet des reformbedürftigen Systems gibt es auch in unserer Kirche hierzulande und weltweit trotz der Ermüdungserscheinungen eine charismatische Dynamik, spirituelle und geistige Schubimpulse, menschliche Ressourcen, ethische und solidarische Synergien und so viel guten Willen mit prophetischer Wut und Glut und in aller Stille so viel selbstverständliche und unbelohnte Treue. Es gibt eine richtige Praxis im falschen System. Es wäre auch Realitätsverlust, nicht sehen zu wollen, was in und durch Kirche geschieht und sich schenken will.
Gott nicht zu klein denken: Selbstevangelisierung
Die Grundfrage jeder Kirchenreform mündet letztlich in die spirituelle Existenzfrage: Wem vertrauen wir? Auf wen setzen wir die Hoffnung? Ist es das Vertrauen auf die Treue Gottes oder auf die scheinbaren Garantien der Kirche als Institution? Natürlich steht Kirchen-Reform immer an. Die ideale Kirche ist uns nicht verheißen. Sie ist nicht machbar. Und wer auszieht, um sie zu schaffen, sehe zu, dass er nicht fundamentalistisch überfordert oder heillos zerstört. Mit ausdrücklichem Rückgriff auf Impulse des II. Vatikanischen Konzils hat die Bischofssynode 1974 in der Evangelisierung die tiefste Identität der Kirche (Evangelii nuntiandi 14) erblickt und damit die Verkündigung in der Welt und die Erneuerung und Bekehrung der Kirche selber verbunden. „Jeglichem Ekklesiozentrismus (als Folge etwa der Fixierung auf binnenkirchl. Probleme in der