Elisabeth zeigt sich in ihrer Liebe durch ihr ganzes kurzes Leben hindurch immer ganz, immer körpernah und immer mit einem Hauch an Unendlichkeit, die diese Dynamik niemals abschließen kann. Eigentlich stellt sich hier nicht Liebe gegen Liebe, etwa Armenliebe gegen die Gattenliebe und Kinderliebe. Sondern diese vitalen Bereiche der Liebe „erster Ordnung“ werden zum Erfahrungsort, um die gleiche Vitalität und Unendlichkeit auch in die Liebe „zweiter Ordnung“ den Kranken und Armen gegenüber zu übertragen, ohne dabei an Vitalität zu verlieren. Es ist die gleiche Quelle.
Noch etwas anderes Entscheidendes fällt bei Elisabeth auf: nämlich ihre unmittelbare Fähigkeit zur Doxologie, zum Lob Gottes, zum Tedeum: und zwar aus unserer Perspektive geradezu kontrafaktisch zu dem, was sie erlebt, zum Beispiel in der Nacht der Vertreibung von der Wartburg.5 In den Quellen wird es spürbar: wie sie fast in kindlicher Weise sich darüber freut, denen ein Schnippchen geschlagen zu haben, die ihre Armen- und Krankenliebe auf ein gesundes Mittelmaß reduzieren wollen.
Immer wieder ist in den Quellen von Jubel und Freude die Rede, aber auch mit gleicher Tiefe von uferlosem Schmerz vor allem bei der Todesbotschaft ihres Gatten. Aber selbst da kann sie den Willen des Vaters preisen: „Herr, Du weißt es wohl: könnte es mit Deinem heiligen göttlichen Willen geschehen, so wäre mir sein Leben und seine liebliche fröhliche Gegenwart und sein Angesicht lieber als Freude und Ehre dieser Welt, so wollte ich gerne alle Tage mit ihm betteln gehen. Aber wider Deinen Willen, liebster Herr, wollte ich ihn nicht wieder zum Leben bringen, wenn ich’s um den Preis eines Haares tun könnte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 59-60). Das ist es, was in ihr aufscheint: nämlich Gott größer sein zu lassen als das eigene Elend (vgl. Fuchs 2008b), und dabei leiblich vor Freude zu „glucksen“, wie es Franz von Assisi zu tun vermag.
Bei Elisabeth wird erfahrbar, „[d]ass die ‚Unmöglichkeit christlichen Daseins’ eben durch die vollkommene Verwirklichung christlichen Daseins bezeugt wird. […] Die Kategorien der Vernunft und die Bedingungen des gesellschaftlichen Wohlverhaltens werden brüskiert; die ‚Ordnung’ des irdischen Lebens wird ‚gefährdet’, ja sie wird belanglos unter dem Gebot einer bedingungslose Hingabe an Gott. Das Dasein der Heiligen ist zwecklos in der Welt; die beunruhigte Nach- und Mitwelt jedoch sucht es wiederum irdischen Zwecken der Belehrung, der Sinnstiftung, der Lebenshilfe und Erbauung nutzbar zu machen“ (Schneider 1997, 88).
Johannes Ciudad in Granada
Drei Jahre nach jenem folgenschweren Geschichtsdatum 1492 wird Johannes Ciudad Duarte (vgl. Fuchs 1994) in der portugiesischen Gemeinde Montemor-o-Novo in der Provinz Alemtejo geboren. Seine Eltern haben ein Obstgeschäft. Aus welchen Gründen auch immer: mit acht Jahren läuft er von zu Hause davon, findet eine Pflegefamilie in Oropesa in Spanien, die ihn als Findelkind „von Gott“ (wie Findlinge damals genannt wurden) aufnimmt und wo er als Schafhirte arbeitet. 1532, also mit 37 Jahren, verdingt er sich als Soldat im Feldzug Kaiser Karls V. gegen die Türken und gelangt dabei bis nach Österreich und Ungarn. Danach (1534) kommt er in das spanische Ceuta an der Küste Nordafrikas. Er arbeitet als Tagelöhner in der Bauarbeit der Festung dieser Stadt.
Später findet man Johannes als Schriftenverkäufer in Gibraltar. 1538 kommt er im Alter von 43 Jahren nach Granada. Die Legende erzählt: Dem fahrenden Buchhändler Johannes Ciudad Duarte hat eines Tages ein Kind einen Granatapfel überreicht und gesagt: „Johannes, Granada wird Dein Kreuz sein“. Granada wird für ihn zu einem gewissen beruflichen Aufstieg: hier wird er sesshaft mit einem kleinen Strassenladen, wo er Bücher und Kleinschriften verkauft. Aber er bleibt nicht bei den Drucksachen, Schriften und Buchstaben stehen. Der nächste Schritt steht noch aus.
Dort geschieht nun auch das, was später seine „radikale Umkehr“ genannt wird. Es sind diese beiden Augenblicke: Johannes kann in der Gasse, wo er wohnt, an einem dort liegenden kranken Bettler nicht mehr einfach vorübergehen; und: er hört eine Predigt des Johannes von Avila und spürt plötzlich, dass es so wie bisher mit ihm nicht weitergeht. Johannes von Avila predigt in der Märtyrerkapelle, insbesondere darüber, wie bei den Märtyrern Wort und Leben zusammenfallen und sie dadurch zum Beispiel werden.
Johannes weiß sich im Anschluss an die Predigt des Johannes von Avila zutiefst als Sünder, ja als einer, der bisher nichts anderes als Schuld auf sich geladen hat. Er ist außer sich, er weiß gar nicht, wie ihm geschieht. Er wälzt sich zu Boden, schreit, wirft seine Bücher auf die Strasse und das Geld hinterher. Gerade in diesem Zustand erfährt er von Gott jene bedingungslose Barmherzigkeit, die er später den Kranken zukommen lässt. In der Theologie des zur gleichen Zeit im nördlichen Europa wirkenden Reformators: Johannes erfährt sich als „simul peccator et justus“ (Sünder und von Gott zugleich gerechtfertigt), um im Durchgang durch die Krise den Glauben daran zu lernen, dass er jederzeit „simul justus et peccator“ ist, mit all den Implikationen der unbedingten Liebe allen Menschen gegenüber, die dieser Transzendenzerfahrung entspringen und entsprechen. Dies ist eine ausschlaggebende Scharnierstelle zwischen „vorher“ und „nachher“: die voraussetzungslose Liebe Gottes, die die Sünderin und den Sünder annimmt und für ein neues Leben freisetzt.
Johannes wird in das Jahrhundert der großen Abenteuer hineingeboren. Im letzten Jahrzehnt des fünfzehnten Jahrhunderts erfolgen die fatalen „Entdeckungen“ neuer Welten: verhängnisvoll nicht nur für die letzteren, sondern auch mit der Wirkung mannigfacher Turbulenzen für die „alte Welt“. Mit der gleichen vernichtenden Intoleranz, mit der die neuen Länder um ihr Gold und ihre Kulturen gebracht wurden, werden in der Reconquista auf der iberischen Halbinsel die Muslime und ihre Kultur zwangsintegriert oder vertrieben. 1492 fällt ihr letztes Bollwerk: Granada! Beides geschah im Namen des Glaubens: Die Conquista gegen das Heidentum und die Reconquista gegen den Islam. Signifikanterweise kommen beide Strategien in Granada zusammen, nämlich durch die Tatsache, dass Columbus in der Kathedrale von Granada bestattet wurde.
Just hier, in Granada, wo die geschichtlichen „main-streams“ bedeutsam genug zusammentreffen, wird ein demgegenüber viel kleineres, aber um so alternativeres Rinnsal entspringen, aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus der Quelle der Barmherzigkeit allen Menschen gegenüber, seien es die Christen oder die Muslime, aus der Liebe vor allem denen gegenüber, die krank sind und Not leiden. Eine Gegenbewegung also zu der Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit der geschichtlichen „Hauptströme“, die Krankheit und Not produzierten. Zwei völlig entgegengesetzte Weisen, wie der christliche Glaube „funktioniert“: als Solidaritätsmotiv für alle Menschen oder als Mordmotiv gegen die Ungläubigen, weil es doch besser sei, die Ungläubigen zum Glauben zu zwingen als sie der Hölle zu überantworten. In solcher „Höllendiakonie“ ist jede Grausamkeit erlaubt, mit den unseligsten Folgen einer Ideologie, in der die Glaubensgrenzen die Heilsgrenzen sind.
Über den Haupteingang des Torbogens, hinter dem Johannes die ersten Kranken pflegt, lautet eine Inschrift: „Das Herz befehle!“. Hier kommt zum Ausdruck, dass die unmittelbare Barmherzigkeit leidenden Menschen gegenüber der praktische und hermeneutische Ausgangsort für alle Begegnungen und Verstehensmöglichkeiten darstellt. (vgl. Lk 7,13) Dass das Herz befiehlt, meint hier keinen entfremdenden Befehl von außen, sondern benutzt diesen gesetzlichen Begriff des Befehlens und pflanzt ihn in die ungesetzliche Reaktion der Liebe hinein, gleichsam um in diesem sprachlichen Paradox jene Unbedingtheit und nicht mehr Wegdiskutierbarkeit, jene Urevidenz auszudrücken,