Elisabeths diesbezügliche Verrücktheit, möglichst viel, zuweilen alles zu schenken, die eigenen Häuser und Betten zu öffnen für die Kranken und Aussätzigen, wird von ihrer Umgebung als Insanitas wahrgenommen. Nur ihr eigener Gatte scheint sie mit einer staunenden Bewunderung ihren Weg gehen zu lassen und sie nicht allzu sehr darin begrenzen zu wollen. Aber dann schon nach seinem Tod Landgraf Heinrich Raspe, der sie in die normale Witwenschaft und neue Heirat hineinordnen will, und vor allem ihr dunkler Schatten, dieser Konrad von Marburg, der hinsichtlich der Elisabeth gegenüber die gesunde Vernunft vertritt und diese mit den damals erprobten Regeln von Bußen und Strafen erzwingen will.3 Doch wird sie nicht krank durch Konrads Brutalität, sondern genau dadurch, dass ihr Konrad befiehlt, die zärtlichen Dienste an den Kranken zu lassen: „wie ein Mensch zusammenbrechen mag, der seine Liebsten vor seinen Augen in Schmerzen sieht und darf sie nicht pflegen und trösten“ (Coudenhove 71933, Gespräch 83).
Konrad will, dass sie sich nicht ansteckt, Konrad will, dass sie ihr Vermögen behält, um dauerhaft geben zu können; ihr spiritueller Lehrer kann nicht spirituell verstehen, was bei Elisabeth eine diesbezüglich rücksichtsvolle Verschwendung4 ausmacht: mit vollen Händen zu geben, im Bewusstsein, ja sicher in der Einbildung unerschöpflicher Fülle. Und dies nicht aus Pflicht, die von außen auferlegt wäre, sondern aus einer viel tiefer liegenden Dynamik heraus. Unheimlich ist diese treibende Kraft, die sich solcher die Mittel dosierenden Verteilung der Selbsthingabe entgegenstellt. Konrad jagte ihr gute Vorsätze gegen die unbegrenzte Verschwendung ein, und Elisabeth hat sie immer wieder gebrochen. Ihr Drang zur leiblichen Barmherzigkeit, oder besser zur barmherzigen Leiblichkeit (im Sinne der Leibsorge für die Anderen, aber auch der Leibhingabe von sich her) war stärker. Und sie hat Freude daran, wo immer sie die Vernunftgebote unterlaufen oder übertreten konnte.
Eine Nächstenliebe über die Liebe hinaus, die vital (in Freundschaft, in der Liebe, Kindern gegenüber usw.) geschenkt ist, ist etwas „so Schweres und so gar nicht Selbstverständliches, dass sehr viele nie über klägliche Versuche hinauskommen“ (Coudenhove 71933, Gespräch 76). Und so ist es dann ein Stück der Selbstzucht, der Askese, auch der Pflichterfüllung, über die geschenkte Liebe hinaus Liebe zu geben, gütig zu sein, wo sich diese Güte nicht vital einstellt, Hilfe und Gerechtigkeit nicht von der Empathiefähigkeit abhängig zu machen, so wichtig diese bleibt. Woher gewinnt Elisabeth die Empathiefähigkeit zu einer Liebe völlig fremden bedrängten Menschen gegenüber, als wäre in ihnen ihr eigener Gatte und ihre eigenen Kinder gegenwärtig?
Elisabeth ist fähig zu einer vitalen erotischen und heißen Liebe. Die Geschichten, die ihre Beziehung zu ihrem Mann betreffen, machen dies sehr deutlich. Es ist eine sinnliche, bis in die leibliche Zärtlichkeit hineingehende Liebe. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 16) Eine kleine Erzählung macht aber schon die Spannung und die Transformationsfähigkeit genau dieser Liebe deutlich: „Wie einst ihr Blick während der hl. Messe auf den festlich geschmückten Gatten fällt und sie lässt sich so innig in die Schönheit und Süße des geliebten Anblicks versinken, dass sie ganz auf das hl. Opfer vergisst […] Wie sie aber vom Glockenzeichen aufgeschreckt den Blick wieder zum Altar wendet, sieht sie die Hostie bluten […] Und es heißt, dass sie lang und wie trostlos über dieses Zeichen geweint hat und Ludwig sie kaum zu beruhigen vermochte“ (Coudenhove 71933, Gespräch 18). Die Alternativen, die hier eröffnet werden, sind nicht die Alternative zwischen Böse und Gut. Denn niemals käme ihr in den Sinn, ihre Liebe zu Ludwig als etwas Böses anzusehen. Es ist vielmehr die Alternative zwischen dem kleinen und dem höchsten Gut. Es „ist nicht der Kampf zwischen Licht und Finsternis, sondern zwischen dem Lichtlein und der Sonne, nicht zwischen Natur und Verderbtheit, sondern zwischen Natur und Übernatur, nicht zwischen Mensch und Teufel, sondern zwischen Mensch und Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 20).
Diese Transformation beginnt nicht erst mit dem Tod Ludwigs, sondern bereits parallel mit dieser Liebe. So legt sie, als Ludwig auf einem seiner Waffengänge weg ist, einen Aussätzigen in das Bett ihres Gatten, berührt und pflegt ihn. Hier verdichtet sich genau dieser Zusammenhang: in das gleiche Bett, wo sie die Liebe mit ihrem Gatten lebt, legt sie den Aussätzigen und zeigt darin, dass zwar mit anderer, aber mit gleicher Liebesintensität dieser im Mittelpunkt ihrer leiblichen Hingabe steht. Alban Stolz erzählt die Legende so, dass der heimkehrende Landgraf, als er den Vorhang vom Bett zurückzieht, tatsächlich den Gekreuzigten in seinem Bett sieht. Im Wunder kommt der geglaubte „Hintergrund“ zum Vorschein. (vgl. Stolz 1923, 69) Nicht Unwertes wird hier also geopfert, und es wird nicht unlustig und ohne Freude geopfert, sondern aus Liebe. Sie stellt die herrschende Askese vom Kopf auf die Füße: sie schenkt nicht, um sich weh zu tun, sondern sie schenkt, um die anderen zu beglücken, „und der Schmerz, der nicht ausbleibt, ist […] höchstens der Preis des köstlichen Schenkendürfens, um den sie nicht feilscht und jammert und auf den sie auch nicht stolz ist“ (Coudenhove 71933, Gespräch 50).
Der Tod ihres Gatten ist für sie fast unüberwindbar. Gleichwohl hat sie schon mit ihm die Zeit danach vorbereitet. Denn jetzt schreitet sie stufenweise in jene leibliche und insgesamt überschwängliche Liebe hinein, die allen Leidenden gilt. Selbstverständlich ekelt auch sie sich vor den Geschwüren der Kranken, aber sie berührt sie, sie pflegt sie, die Legende sagt sogar, dass sie sie küsst. Ob hier das entsprechende Erzählschema von Franz von Assisi gestaltgebend ist, oder ob dahinter tatsächliches Handeln steht, muss nicht ausgemacht werden. Nun endgültig getrennt von ihrem Gatten, trennt sie sich auch von den Kindern, was allerdings im damaligen Kontext nicht gerade jene Herzlosigkeit sein muss, die wir heute damit verbinden mögen. (vgl. Maresch 1932, 158f) Kinder, die in der feudalen Herrschaftsklasse aufwuchsen, wurden einer Amme und anderen zur Erziehung übergeben.
Doch zeigt sich insgesamt in solchen nicht von ungefähr nochmals unterstrichenen Bemerkungen dieses Zusammenhangs der Hintergrund einer Transformation, die wohl folgendermaßen gelesen werden darf: Elisabeth tut wirklich etwas, was wörtlich von Jesus gesagt wurde, nämlich um seinetwillen die Eigenen zu verlassen (was ja normalerweise „nicht ernst gemeint sein kann“). Sie aber übersetzt diesen Satz Jesu eins zu eins in ihr Leben hinein. Und dies auch nicht nur auf dem Hintergrund des Vorbildes Jesu, sondern in einer intensiven Beziehung mit ihm. Sie umarmt den Schmerz der anderen, weil Christus ihn gelitten hat. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 68)
Sie will sein armes und gehetztes Wanderleben miterleben, in seliger Weise bei ihm sein und mit ihm sein. (vgl. Coudenhove 71933, Gespräch 69f)
Die körperliche Liebkosung gilt nun nicht mehr dem schönen Leib ihres Gatten, sondern dem geschundenen Leib des fremden Leidenden. Die Erotik bekommt ein negatives Vorzeichen: wenn darunter körperliche Anziehungskraft zu verstehen ist, dann gewinnt nun der verfallende Köper eine geradezu vitale Anziehungskraft für Elisabeth. Alban Stolz scheint in seiner eindrucksvollen Biographie der heiligen Elisabeth diese liebkosende Leiblichkeit am ekelhaften Körper nicht aushalten zu können, indem er schreibt: „Desgleichen ging auch Elisabeth, gleichsam als wäre sie nur noch eine Seele ohne Fleisch und Blut, zu den abscheulichsten Kranken und berührte sie ohne Scheu, wie man ein hübsches Kind berührt“ (Stolz 1923, 68). Der Autor muss offensichtlich den Leib erst vergeistigen, bevor er zu so etwas fähig wird.
Diese leibliche Spiritualität entspricht der Wirklichkeit aus Mt 25,40: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Diesen Satz hat sie durch und durch substantiell, real präsentisch verstanden: in jedem Leidenden, in jedem Aussätzigen, in jedem Armen begegnet sie in der Tat Christus leiblich. Hier wird nicht etwa der Mensch geliebt, um Gott zu gefallen, sondern beides fällt ineinander. Gott wird im Anderen geliebt. Die Menschenliebe wird also nicht für die Gottesliebe instrumentalisiert, in einer Entwertung der menschlichen Person, in einem „Herabsinken zur zufälligen Begleiterscheinung des Dienstes an Gott“ (Coudenhove 71933, Gespräch 80).
Coudenhove