Ein Mann mittleren Alters sagt: Ich „glaube […] noch immer an einen Gott. Nicht dauernd. Manchmal ist das Gefühl für Monate weg, aber dann ist es auf einmal wieder da. Meistens denke ich an ihn, wenn es mir besonders gut geht – oder wenn ich mich sorge. Dann, rede ich ein bisschen mit ihm, vorm Einschlafen meistens, sage: Lass den oder den bitte wieder gesund werden. Ich sage übrigens nie: ‚Wie kannst du zulassen, dass […]‘ Wahrscheinlich bin ich ihm nicht nahe genug, um mich mit ihm zu streiten. Wobei ich auch nicht erwarte, dass sich Gott ins Leben einmischt. Ich glaube, dass er sich raushält. Am ehesten glaube ich noch: Er weiß, was passieren wird“ (Stolz 2009, 16).
Ich denke, so oder ähnlich würden das viele Menschen heute sagen. Sie sind sozusagen offen in viele Richtungen. Sie bilden die in sich vielgestaltige religiöse Mitte. Für die Religionspädagogik schafft dies interessante, aber auch schwierige Bedingungen. Norbert Mette, der die religiöse Gegenwartssituation seit den 1970-er Jahren immer wieder luzide kommentiert hat, meint: Die Vielgestaltigkeit neuer, untereinander nur schwer kommunizierbarer Religiositätsformate, die sich noch dazu von den traditionellen Religionen teilweise ausdrücklich absetzen, stellt für „eine an einer traditionellen Religion orientierte Religionspädagogik […] eine enorme Herausforderung dar“ (Mette 2009, 10). Man werde sorgfältig zu bedenken haben: Bringt die neue Situation „eher Chancen mit sich oder hindert sie eher daran, die überkommenen und zentralen christlichen Glaubensinhalte in die religiöse Erziehung und Bildung einzubringen und geltend zu machen?“ (Mette 2009, 10). Aus Mettes Sicht entscheidet sich, wie es hier weitergeht, vor allem am Umgang mit der Gottesfrage!
Literatur
Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009 (mit CD „Grundauswertung, Methodenberichte, Umfrageprotokolle“).
Bitter, G., Art. „beten/lobpreisen“, in: G. Bitter/G. Miller (Hgg.), Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 1986, 376-383.
Bolz, N., Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen, München 2008
Ders., Die Sinngesellschaft, Düsseldorf 1997.
Davie, G., Religion in Britain since 1945. Believing without belonging, Cambridge/USA 1994.
Englert, R., Religionsunterricht in der Multioptionsgesellschaft, in: Katechetische Blätter 135 (2010), 284-291.
Habermas, J., Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Über Glauben und Wissen und den Defaitismus der modernen Vernunft, in: NZZ-online vom 12. 2. 2007: http://www.nzz.ch/2007/02/10/li/articleEVB7X.html.
Kurzke, H./Wirion, J., Unglaubensgespräch. Vom Nutzen und Nachteil der Religion für das Leben, München 2005.
Lüddeckens, D./Walthert, R. (Hgg.), Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel. Theoretische und empirische Systematisierungen, Bielefeld 2010.
Mette, N., „Gottesverdunstung“ – eine religionspädagogische Zeitdiagnose, in: R. Englert (u.a.) (Hgg.), Gott im Religionsunterricht (Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 25), Neukirchen-Vluyn 2009, 9-23.
Nassehi, A., Religiöse Kommunikation: Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 169-203.
Prokopf, A./Ziebertz, H.-G., Abduktive Korrelation – Eine Neuorientierung für die Korrelationsdidaktik?, in: Religionspädagogische Beiträge 44 (2000), 19-50.
Stolz, M., Ich glaube, ich trete aus, in: Zeit-Magazin vom 17.12.2009, 12-19.
Striet, M. (Hg.), Wiederkehr des Atheismus. Fluch oder Segen für die Theologie?, Freiburg 2008.
Tobias Kläden
Neurowissenschaftliche Herausforderungen an die Praktische Theologie – nur ein Hirngespinst?
„Ohne Hirn ist alles nichts.“ Diese lässige, jedoch nicht als Provokation gemeinte Aussage kann als die Leitidee der Hirnforschung betrachtet werden. Vielleicht ist die Aussage viel zu allgemein formuliert, um überhaupt wahr sein zu können. Also genauer: Die Leitthese der kognitiven Neurowissenschaften besagt, dass unser Bewusstsein, unser gesamtes mentales Leben nicht möglich wäre ohne bestimmte, spezifische und funktionierende Hirnzustände.
Die kognitiven Neurowissenschaften sind ein Teil des Bündels von Disziplinen, die man unter der Sammelbezeichnung „Hirnforschung“ zusammenfasst. Sie befassen sich mit den neuronalen Grundlagen von kognitiven und psychischen Funktionen; im Mittelpunkt des Interesses stehen also die höheren Leistungen des menschlichen Gehirns. Aus der klinischen und der experimentellen Erfahrung der Neurowissenschaften lässt sich nun eine starke Intuition ableiten: Alle Vermögen des Menschen setzen ein intaktes Hirn voraus – seien es Denken, Sprache, Gedächtnis, Wahrnehmungsfähigkeit, aber auch seine Wünsche und Emotionen. Es gibt zumindest keine überzeugenden und vor allem keine replizierbaren Berichte über die Existenz von psychischen Phänomenen, die unabhängig von bestimmten Hirnprozessen aufträten.
Formuliert man diese Intuition über die empirischen Daten hinausgehend, so gelangt man zu der These, dass psychische Phänomene ausschließlich im Zusammenhang mit (spezifischen) Hirnprozessen auftreten, oder umgekehrt: Ohne Hirnprozesse gibt es keine psychischen Phänomene. Ohne hier auf die weit reichenden philosophischen Konsequenzen dieser oft vertretenen These eingehen zu können, wird ohne weiteres deutlich, dass diese These und die dahinterstehenden Ergebnisse der Hirnforschung von theologischer und auch von praktischtheologischer Relevanz sind. Denn wie die breite Diskussion in der Öffentlichkeit zeigt, lassen die Befunde der Hirnforschung das Selbstverständnis des Menschen nicht unbeeinflusst. Offenbar schicken sich die Neurowissenschaften an, die vornehmsten Eigenschaften des Menschen, wie etwa seine Reflexionsfähigkeit, seinen Intellekt oder seinen freien Willen, auf natürliche Weise, mit den Mitteln der Naturwissenschaften zu erklären und damit vielleicht wegzuerklären. Dadurch droht der Mensch, seine Sonderstellung als geistbegabtes Wesen zu verlieren.
Auch die Religiosität des Menschen gerät in den Fokus der neurowissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Religiöse Einstellungen und Überzeugungen unterliegen dem Programm der Naturalisierung, der natürlichen Erklärbarkeit genauso wie religiös motivierte Verhaltensweisen. Spätestens an dieser Stelle kann sich die praktische Theologie nicht mehr heraushalten aus der Diskussion um die Fragen, die die Neurowissenschaften aufwerfen.
Im Folgenden werde ich versuchen, die Relevanz dieser Fragestellungen für die praktische Theologie aufzuzeigen und diese Bedeutung an einem Beispiel exemplarisch zu veranschaulichen. Im diesem Beispiel soll es ganz knapp um die Befunde und Thesen gehen, die unter der Bezeichnung „Neurotheologie“ durch populäre und wissenschaftliche Medien geistern.
Herausforderungen an die praktische Theologie
Schaut man aus der Vogelperspektive auf den aktuellen Stand der Neurowissenschaften, stellt man fest: Obwohl noch große Lücken in unserem Wissen über das Gehirn klaffen, obwohl die eigentliche Funktionsweise des Gehirns noch lange nicht als entschlüsselt gelten kann, so schickt sich die Hirnforschung doch an, entscheidend am Selbstverständnis des Menschen zu kratzen. Auch wenn insbesondere die Art und Weise der Codierung und Repräsentation von Information im Gehirn noch ganz unklar ist, so scheint doch das, was den Menschen ausmacht, grundsätzlich mit neurowissenschaftlichen Methoden erforschbar zu sein. Auf der Agenda