Anhäufen, forschen, erhalten. Anna Joss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anna Joss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199112
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die stattfinden zwischen den Menschen und den «nicht-menschlichen Wesen», wie er die Dinge nennt.46

      Sein Konzept der «symmetrischen Anthropologie» ist aus den folgenden Gründen immer noch interessant für die geschichtswissenschaftliche Untersuchung einer Sammlungspraxis: Erstens ist es offener als andere Ding-Konzepte. Das Konzept von Latour beschränkt sich nicht auf bestimmte Praxisfelder oder Arten von Dingen, wie es museums- und sammlungstheoretische Ansätze vorschlagen. Diese qualifizieren Sammlungsstücke in der Regel als statische Objekte innerhalb eines Sammlungsverbandes, ohne zu berücksichtigen, dass die Sammlungsstücke verschiedene Stationen im Sammlungsalltag durchlaufen und sich dabei in Interaktion mit den Sammlerinnen und Sammlern auch verändern. Vertreterinnen eines solchen Ansatzes sind beispielsweise Anke te Heesen und Petra Lutz. Sie definieren «museale Dinge» als Objekte, die in das Museum kommen, «wenn sie abgeschlossen und ‹fertig› sind, mögen sie noch so bruchstückhaft oder zerstört aussehen».47 Dinge würden im Museum nicht generiert, sondern zueinander (und zum Betrachter) in Position gebracht. Im Museum habe man es mit einem materiellen Gegenüber zu tun, «das man in seiner Substanz nicht verändert (lediglich weiter konserviert), aber in seiner Wirkung und Bedeutung in eine bestimmte Richtung lesen und lenken kann».48 In ihrer Definition geht es te Heesen und Lutz vor allem darum, die «musealen Dinge» vom Konzept der «epistemischen Dinge», 49 das der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger vorgeschlagen hat, abzugrenzen.50 Im Museum seien «Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit»51 die bevorzugten Kriterien, schreiben sie, nicht aber bei den epistemischen Dingen. Die epistemischen Dinge sind nicht unbedingt eine abgrenzbare, dreidimensionale, materiell und visuell zu identifizierende Entität wie die musealen Dinge, sondern können ein Konglomerat von Entwicklungen und Konjunkturen, von Institutionen und Instrumenten sein, bei denen das Objekt das Zusammenspiel von Erkenntnis suchenden Menschen und den materialen Bedingungen einer wissenschaftlichen Praxis bezeichnet. Diese Dinge seien in erster Linie im Forschungsprozess epistemisch, im Nachhinein nicht mehr.52

      Ganz klar, die Dinge im Museum sind nicht die Gleichen wie die in biowissenschaftlichen Laborarbeiten involvierten Objekte. Doch die Sammlungsstücke sind nicht «abgeschlossenen». Am augenfälligsten ist es bei der materiellen Substanz der Objekte. Die Materialien altern. Gerade bei den verschiedenen Praktiken, die sich um den materiellen Erhalt der Dinge kümmern, den Konservierungs- und Restaurierungsarbeiten, geht es nicht ohne Eingriffe in die Materialität der Dinge und damit auch nicht ohne Substanzveränderungen.53 Deshalb ist es sinnvoll, ein Dingkonzept wie dasjenige von Bruno Latour zu wählen, das den Dingen nicht von vornherein bestimmte Eigenschaften wie Anschaulichkeit, Zugänglichkeit und Haltbarkeit zuschreibt.54 Der zweite Grund, der Latours Konzept für das Verfassen einer Sammlungsgeschichte interessant macht, ist der Perspektivenwechsel, den er mit der symmetrischen Anthropologie vorschlägt: Wenn man die Sammlungsstücke statt (nur) als Objekte auch als Subjekte betrachtet und die Praxis von den Sammlungsstücken her zu beleuchten versucht, so fällt der Kurzschluss weg, dass sie immer auch der Gegenstand, das Ziel und der Sinn der Sammlungspraxis seien. Der Perspektivenwechsel bietet die Grundlage für die offen formulierten Fragen danach, welche Praktiken es gab und was dabei entstand. Der Blick wird auf das Dazwischen gelenkt, zwischen den Menschen und den Dingen, Menschen und Menschen, Dinge und Dinge, «in the blind spot», 55 wie es Latour nennt. Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Vorgänge, Verbindungen und Beziehungen in diesem Dazwischen zu betrachten.56 Anders als in der praxeologisch orientierten Forschung der letzten Jahre stehen folglich in dieser Arbeit nicht die Dinge im Fokus, sondern die Praxis selbst.57

      Eine Sammlungsgeschichte zu schreiben, heisst demzufolge, die Verbindungen und die Konstellationen zwischen den Menschen und den Dingen zu betrachten. Der Perspektivenwechsel ist aber immer nur als Denkfigur möglich. Im Gegensatz zu Latour will ich nicht von den Dingen als Akteuren sprechen.58 Die Dinge tun nichts, als da zu sein, und je nach materieller Substanz verändern sie sich, zersetzen sie sich oder zerfallen sie schneller oder langsamer. Das alles ist nicht wenig, wenn man sich die beträchtliche Überzahl der Dinge gegenüber den Menschen vor Augen hält, die in die Sammlungspraktiken am Nationalmuseum involviert sind. Sie sind Teil der Praxis, und ihre Gegenständlichkeit schafft bestimmte Handlungsmöglichkeiten.59 Die begriffliche Konsequenz davon ist, dass ich mich auf keinen fixen Terminus beschränken werde, um das Sammlungsgut des Nationalmuseums in toto zu benennen. Stattdessen wähle ich je nach Konstellation die Bezeichnung: Wenn es um unspezifische Beschreibungen geht, spreche ich von Dingen; will ich den Aspekt des Sammelns betonen, von Sammlungsstücken; und beschreibe ich eine Objekt-Subjekt-Konstellation, wähle ich den Begriff Objekt. Weiter werde ich besonders auf die Unterscheidung zwischen Ding und Materialität achten, um nicht dem seltsamen «Materialismus» zu verfallen, der teilweise in der jüngeren Forschung zu beobachten ist. Hier werden die Dinge oftmals mit ihrer Materialität, ihren stofflichen, materialen Eigenschaften gleichgesetzt, als ob sie «materieller» als Menschen wären. In den theoretischen Konzeptionen fällt eine Unschärfe auf zwischen den Begriffsfeldern Material/Materialität/Stoff und Ding/Gegenstand/Objekt.60 Materialität erscheint dann als der Gegenpol des Semantischen. Aber genauso wenig wie beim menschlichen Körper kann bei den Dingkörpern gesagt werden, dass ihre materielle Substanz allein eine absolute physikalische oder biologische Grösse sei.61 Es gilt darauf zu achten, dass die Materialität der Dinge hergestellt und kulturell geformt ist; sie ist in Praktiken eingebunden und mit anderen Materialitäten, Dingen oder Körpern verbunden.62

      Stand der Forschung: Museums- und Sammlungsgeschichte

      Meine Arbeit zur Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums und seiner Sammlung will ich zunächst in der bestehenden Literatur zur Sammlungs- und Museumsgeschichte verorten. Dabei gehe ich besonders auf den Forschungsstand zur Sammlungsgeschichte des Schweizerischen Nationalmuseums ein.

      Über die Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums und die in diesem Rahmen praktizierten Sammlungstätigkeiten wurde bisher nur vereinzelt geschrieben, und dann mit dem Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Zeit der Institutionsgründung. Hanspeter Draeyers Arbeit zur Bau- und Entwicklungsgeschichte des Nationalmuseums (1889–1998) ist die einzige Studie, die sich ausführlicher mit dem 20. Jahrhundert befasst, der Zeitspanne, die mich interessiert. Draeyer untersucht den Bau und Umbau des Museums sowie die Veränderungen der Ausstellungspräsentationen; andere museale Tätigkeiten kommen nur am Rand zur Sprache.63

      Die bisherigen Publikationen zur Geschichte des Schweizerischen Nationalmuseums entstanden hauptsächlich im Rahmen von Jubiläen, ähnlich wie bei anderen National- und Landesmuseen.64 Je nach Zeit waren die thematischen Gewichtungen der Geschichtsschreibung andere: Zum 50-Jahr-Jubiläum des Schweizerischen Landesmuseums hatte man sich 1948 mit einer einzigen Festschrift «begnügt», 65 wie es darin hiess. Man wollte sich, passend zu den Tätigkeiten des Museums, mit dem «stillen, der Vergangenheit zugewandten Wirken» vom «laute[n] Geburtstagsfest»66 des Schweizerischen Bundesstaates abheben, der gleichzeitig seine 100-Jahr-Feier hatte. Im Jubiläumsband erläuterten die Museumsmitarbeiter hauptsächlich die Bestände der einzelnen Sammlungen und präsentierten in einem umfassenden Bildteil herausragende Sammlungsstücke. Ganz anders 1998 zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums: Da wurde die Doppelfeier zum Programm gemacht. Im Landesmuseum wurde, in Zusammenarbeit mit externen Historikerinnen und Historikern, eine Sonderausstellung gezeigt mit dem Titel «Die Erfindung der Schweiz 1848–1998. Bildentwürfe einer Nation», begleitet von einem umfangreichen Ausstellungskatalog. Finanziert wurden die Ausstellung teilweise aus dem Jubiläumsbudget «150 Jahre Bundesstaat».67 Zudem erschienen zur Geschichte des Museums gleich mehrere Darstellungen von Mitarbeitenden des Museums.68 Den rund um das 100-Jahr-Jubiläum entstandenen Forschungsarbeiten ist gemeinsam, dass sie die Geschichte des Schweizerischen Landesmuseums in enger Verbindung zum Prozess der Identitätsbildung der Nation Schweiz thematisieren. Sie sehen das Museum als einen Schauplatz unter anderen, wo eine imagologische Bastelei nationaler Identität stattfand, entsprechend der jeweiligen Zeitströmung.69

      Dass der Museumsgeburtstag als Doppeljubiläum (Nationalmuseum/Nationalstaat) begangen wurde, ist Ausdruck des damaligen Bedürfnisses