Dass der Begriff der «Nation» beziehungsweise die Inszenierung einer «Nationalgeschichte» nur ein Bezugsrahmen unter anderen war, der bei den Museumsgründungen des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte, wurde jüngst auch bezüglich des Schweizerischen Nationalmuseums dargestellt, bezeichnenderweise durch eine Kunsthistorikerin. Ausgehend von der Figur des ersten Museumsdirektors, Heinrich Angst, legt Chantal Lafontant Vallotton in ihrer Dissertation von 2007 dar, welche personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen dem Museum und dem Kunstmarkt in den Jahren 1883 bis 1902 bestanden hatten. Lafontant kommt zu der Erkenntnis, dass die öffentlich finanzierte Sammlungstätigkeit des Bundes inhaltlich entscheidend von den persönlichen Vorlieben des Gründerdirektors und dessen Agitationen auf dem internationalen Kunstmarkt bestimmt war.77 Der Begriff der «Nation» war dabei nicht zuletzt insofern präsent, als xenophobe und antisemitische Äusserungen zu den gängigen Voten gehörten, um das eidgenössische Parlament von einem Ankauf eines Kunstguts aus dem Gebiet der Schweiz zu überzeugen, das den ästhetischen Präferenzen der Museumsbehörden entsprach.78
Ein weiterer Forschungszweig der 1990er-Jahre, der teilweise an das dargelegte Narrativ einer Museumsgeschichte als Nationalstaatsgeschichte anknüpfte, waren die unter dem cultural turn zu verortenden Untersuchungen von Erinnerungskulturen, wobei das (historische) Museum als Installation spezifischer Erinnerungsformationen, als «lieux de mémoire», 79 verstanden wurde.80 Beeinflusst von der wandelnden Konzeption des menschlichen Gedächtnisses veränderten sich Anfang der 2000er-Jahre auch die kulturwissenschaftlichen Vorstellungen über die Funktion des Museums. Verstanden als externes Speichermedium einer Gesellschaft, rückten andere Bereiche des Museums in den Blick: Untersucht wurde das Verhältnis zwischen den verschiedenen «Zonen der Erinnerungen», den Depots, den Magazinen und dem Ausstellungsraum.81
Abschliessend ist zur geschichtswissenschaftlichen Forschung über die historischen Museen und Nationalmuseen zu sagen, dass sie sich – abgesehen von ihrer Präferenz für die Kategorie «Nation» – generell für ähnliche Themen und Untersuchungsräume wie die Museumsforschungen anderer Disziplinen interessierte: Im Vordergrund stand das Thema Ausstellung, als Untersuchungszeiträume interessierten die Spätrenaissance und der Barock mit ihren Wunderkammern sowie das 19. Jahrhundert. Aktuell ist eine Hinwendung zur Museumsgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre zu beobachten.82 Andere Praktiken wie die Objektrestaurierung oder die Inventarisierung, die mich interessieren, waren dagegen bei den Nationalmuseen und historischen Museen bisher fast gar nicht Thema, 83 ebenso wenig die Zeitspanne von den 1920er- bis zu den 1960er-Jahren, als diese Praktiken zum Kerngeschäft der Museumsarbeit gehörten. Um die Geschichte dieser Praktiken zu erschliessen, müssen die Ergebnisse aus anderen Forschungsbereichen beigezogen werden.
Anthropologen, Philosophen und Psychologen interessierten sich (ebenfalls im Rahmen des cultural turn) für das Sammeln als eine spezifische Umgangsweise des Menschen mit der Objektwelt, verstanden als eine zentrale Praxis der Identitätsbildung.84 Zur wichtigen Referenz im deutschen Sprachraum wurde Krzysztof Pomians schmales Bändchen Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln (fr. 1987), das 1988 auf Deutsch erschien. Sein semiotisch geprägter Ansatz fand weit über die 1980er-Jahre hinaus grossen Nachhall in den kulturwissenschaftlichen Forschungen.85 In seinem Theorieentwurf über das Sammeln im musealen Zusammenhang sucht der französische Philosoph nach einem verbindenden Strukturmerkmal des Sammelns in unterschiedlichsten Kulturen und Epochen (von antiken Grab- oder Tempelbeigaben über Reliquien bis zur Vasensammlung der Medici). Seine Antwort lautet, dass die Sammlungsstücke im Museum einzig zum Zweck ihrer Betrachtung vereint sind, um das Unsichtbare (die Vergangenheit oder das Göttliche) zu repräsentieren.86 Sie funktionieren nach Pomian als Vermittler zwischen den Lebenden dieser Welt und den Toten, zwischen Göttern und Menschen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.87
Pomians Untersuchung kann nicht erklären, weshalb die Repräsentations- und Vermittlungsweisen sich über die Zeit radikal verändert haben. Zudem ist sie eine weitere Studie, welche die Intention des Sammelns auf das Ausstellen und die Museen auf ihre Ausstellungspraxis beschränkt. Gegen diese Reduktion werde ich in meiner Arbeit argumentieren.
Mit anderen Praktiken als dem Ausstellen befassten sich die Vertreterinnen und Vertreter der Wissenschaftsgeschichte. Entsprechend wichtig sind ihre Untersuchungen für meine Arbeit.88 Programmatisch für die Forschung in diesem Bereich ist weiterhin die Einleitung «Sammeln als Wissen»89 von Anke te Heesen und Emma C.Spary im gleichnamigen Band von 2002. Sie untersuchten die konkrete Praxis des Sammelns als Teil der wissenschaftlichen Tätigkeit (des Systematisierens, Speicherns und Katalogisierens) zur Erkenntnisgewinnung. Ein besonderes Augenmerk legen sie dabei auf den Anteil der Dinge an der Praxis.90 Im Sammelband von te Heesen und Spary konzentrieren sich alle Aufsätze auf die naturwissenschaftlichen Sammlungspraktiken, entsprechend den generellen Forschungspräferenzen in der Wissenschaftsgeschichte, die sich zuerst den Naturwissenschaften, der Medizin und der Ingenieurtechnik und nicht den geistes- und sozialwissenschaftlichen Gebieten zuwandten.91 In den darauf folgenden wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zum Sammeln blieb der Fokus auf den Naturwissenschaften, oder sie konzentrierten sich auf die frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern.92 Auch wenn die Tätigkeiten im Fall des Schweizerischen Nationalmuseums und anderer historischer Museen und Nationalmuseen nur partiell und temporär als (natur)wissenschaftlich bezeichnet werden können, ist es in der Geschichtsschreibung über sie fruchtbar, auf das wissenschaftsgeschichtliche Vorgehen methodisch Bezug zu nehmen.
Quellen: unabgeschlossen, hermetisch
Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von Sammlungspraktiken an einem Museum bringt einige quellentechnische Besonderheiten mit sich: Das Museum ist kein Ort, wo Schriftlichkeit gepflegt wurde. Der mündliche Austausch war wichtiger. Um die Archivierung der verhältnismässig wenigen schriftlichen Quellen kümmerten sich die Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter nicht speziell, sodass diese unsystematisch erhalten wurden. Offenbar erachteten die Mitarbeitenden sich für die Dokumentation der Geschichte ihrer Institution nicht als zuständig. Überspitzt gesagt: Die Museumsmitarbeitenden bewahrten die Sammlungsstücke auf und warfen die Textdokumente über sie weg.
Die fehlenden Dokumentationsbemühungen