Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
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der Schweiz selber waren.

      Die führenden Militärs befassten sich kaum mit diesem Problem, obwohl es aufgrund des rasch aufblühenden Waffenexports auch für die schweizerische Rüstungsbeschaffung von einiger Relevanz war. Viele dachten in obsoleten Kategorien und hielten daran fest, je länger der Krieg dauere, desto weniger sei es möglich, den Zustand der bewaffneten Neutralität aufrechtzuerhalten. Das demonstrative Desinteresse am Wirtschaftlichen erklärte sich aus dem Hang General Willes, ein rechnerisches Kalkül mit genau jener «Krämerseele» und «Händlermentalität» gleichzusetzen, die er im Namen eines heldenhaften Heroismus, den er in Deutschland verkörpert fand, verachtete.41

      Entsprechend inkonsistent war seine Meinung zu einem Kriegseintritt der Schweiz. Er hielt eine militärische Kriegsbeteiligung – seiner Meinung nach klar auf Seiten der Mittelmächte – für unvermeidlich. Dies zu einem Zeitpunkt, als die wichtigsten Wirtschaftszweige und auch die Regierung die «Übergangszeit» ganz anders zu interpretieren begonnen hatten, als dies anfänglich der Fall war. Der erwartete Zugzwang zu einem Kriegsbeitritt hatten sich mitnichten eingestellt. Und je länger das militärische Kräftemessen auf den Schlachtfeldern dauerte, desto mehr einigten sich massgebliche Politiker und Wirtschaftsexponenten auf die Devise eines flexiblen Durchhaltens und Sich-Anpassens. So fand Wille mit seinen Eintrittsparolen immer weniger Widerhall. Dennoch blieb er bei seiner Meinung eines unbesiegbaren Deutschland. Dabei dachte er in grossen Zusammenhängen und eminent politisch: Er plädierte für einen Kriegseintritt, um der Schweiz bei Kriegsende, wenn die Karten neu verteilt werden würden, eine optimale Ausgangsposition zu verschaffen. So waren für ihn Kriegsbeteiligung und nationale Unabhängigkeit überhaupt keine Gegensätze. Er schrieb im zitierten «Säbelrasselbrief», dass er, «wenn die Erhaltung unserer Selbständigkeit und Unabhängigkeit dies erfordert, den gegenwärtigen Moment für das Eintreten in den Krieg als vorteilhaft erachte». Dass Wille 1915 in dichter Aufeinanderfolge forderte, die Schweiz solle «neutral bleiben und verhindern, in den Krieg mit hineingezogen zu werden» und gleichzeitig daran festhielt, «wir» würden, «ob wir wollen oder nicht, in den allgemeinen Krieg hineingezogen werden», ist nicht Ausdruck von Wankelmütigkeit, sondern darin äussern sich situative Stellungnahmen bei anhaltender Konstanz des Gesamtbildes.

      Ab 1917 führten aussenwirtschaftlicher Sachverstand und pragmatischer Opportunismus dazu, dass sich die Schweiz zum Entsetzen der diplomatischen Vertreter Deutschlands mittels der «American Mission» mit atemberaubendem Tempo auf die Seite der USA und etwas später zudem ins Völkerbundlager schlug.42 Die ab Sommer 1918 eintreffenden Getreidelieferungen aus den USA entspannten – anfänglich vor allem im Erwartungshorizont – eine prekär gewordene Versorgungslage. Wille war diese Gesinnung nicht geheuer, und weil er die Vorgänge nicht (mehr) verstand, verlor er seinen Einfluss auf die Aussenpositionierung der Schweiz und wurde zudem zum Objekt sehr persönlicher Intrigen aus dem Innern des militärischen Apparates. Umso dezidierter wandte er sich deshalb in den letzten beiden Kriegsjahren der innenpolitischen Front, dem Ordnungsdienst der Armee gegen die Arbeiterbewegung zu. Diese Aufgabe verfolgte er, in Übereinstimmung mit der ganzen militärischen Führung, mit einem stark reduzierten Sensorium für die sozialpolitische Lage im Land. Schon in der Studie von Willi Gautschi zum schweizerischen Landesstreik wird hervorgehoben, welch phantasmatische Bedrohungsfiktionen in der schweizerischen Elite kultiviert wurden.43 Daraus erklärt sich zum Gutteil die provozierende Vorgehensweise, die mit grossen Truppenaufgeboten in verschiedenen Städten in die Generalstreik-Eskalation hineinführte. Eine weitergehende Erklärung müsste berücksichtigen, dass sich diese Massnahmen – im Unterschied zu General Willes lautem Nachdenken über einen schweizerischen Kriegseintritt auf Seiten Deutschlands – mit dem Prinzip der «bewaffneten Neutralität» vereinbaren liessen. In der Konsequenz stabilisierten sie das Vertrauen in den Finanzplatz und sie stiessen in der sich mittels Bürgerwehren neu formierenden nationalen Rechten auf breite Zustimmung. Doch auch die Auseinandersetzungen im Innern der Schweiz standen bald im Bann anderer Prioritäten und Zukunftsbilder. «Die Welt, in der der General aufgewachsen war, (war) verschwunden», bilanzierte Böschenstein 1960 ebenso knapp wie zutreffend.

      IV.

      Ein Ausblick auf das 20. Jahrhundert offenbart die anhaltenden Schwierigkeiten von Armee und Behörden gleichermassen, Form und Funktion der militärischen Landesverteidigung auf der Höhe der jeweiligen Gegenwartsprobleme zu reflektieren und insbesondere aussen- sowie volkswirtschaftlichen Bedingungen, Restriktionen und Potenzialen Rechnung zu tragen. Im Ersten Weltkrieg hatte sich der enge Nexus zwischen wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit das erste Mal mit voller Wucht bemerkbar gemacht. Die damals ersichtlichen Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption überdauerten das Kriegsende. Im Zweiten Weltkrieg trat dann «der Antagonismus zwischen ‹Landesverteidigung› und ‹Kriegsführung›» klar zutage, womit das Bewusstsein für die Tatsache geschärft wurde, dass «das Überleben [militärisch] nur gesichert werden [konnte], wenn dies auch wirtschaftlich der Fall war».44 Doch auch damals setzte sich die Einsicht, dass eine glaubhafte Dissuasionsstrategie […] «ausschliesslich im Rahmen einer umfassenden sicherheitspolitischen Konzeption denkbar» war, nicht durch.45 Es gab zwar Ansätze zu einer «strategischen Synthese», welche die konfligierenden Ressourcennutzungen und Zielkonflikte auf ein Sicherheitsoptimum hin auszutarieren trachtete.46 Eine weiterführende, auf sicherheitspolitischer und ebenso ökonomischer Expertise basierende Diskussion über eine mehrdimensionale Landesverteidigung wurde indessen nach 1945 durch die historische Mythenbildung um das Réduit national und die vergangenheitspolitische Popularität des «Aktivdienstmodells» wirksam blockiert.47

      Dies war deshalb problematisch, weil sich die Schweiz auch nach dem Zweiten Weltkrieg «der Entwicklung in der modernen Kriegsführung keineswegs entziehen» konnte.48 Diese perzipierte man nach 1945 stark unter dem operativ-waffentechnischen Aspekt. Über den Konzeptionenstreit zwischen «Stabilen» und «Mobilen» sowie weitere innere Konflikte hinaus träumte die schweizerische Armeeführung mehrheitlich von Atombomben, die als «moderne Hellebarden» zur Bekämpfung des Feindes im Mittelland eingesetzt werden sollten, von Hunderten von Kampfflugzeugen, die, wenn nötig, mit Atomwaffen in die strategische Tiefe des Ostblocks vordringen, und von hochmechanisierten Einheiten, mit denen feindliche Kräfte im «Kriegstheater» besiegt werden konnten. Der Fokus lag erneut auf militärischen Aspekten – die weiteren Zusammenhänge einer auf verschiedenen Stufen einer Konflikteskalation funktionierenden Landesverteidigung wurden weitgehend ausgeblendet. Dass diese Waffen-Aufrüstungspläne dann nicht verwirklicht werden konnten, war nicht Resultat besserer Einsicht, sondern einer opaken Mischung aus freundeidgenössischen Kompromissen, unternehmerischer Interessenpolitik und äusseren Zwängen geschuldet. Im Einzelnen zu nennen sind: Fehlende Finanzen auf Bundesebene, aussenwirtschaftliche Abhängigkeiten und Präferenzen (unter anderem Kauf von US-amerikanischen Leichtwasserreaktoren), multilaterale Verrechtlichungsprozesse im globalen Massstab (atomare Non-Proliferationsabkommen).49

      Die Schweiz brachte sich mit diesen Lernschwierigkeiten, die mit einer Vereindimensionalisierung der Expertise zusammenhängen, «um die sicherheitspolitischen Früchte ihrer spezifischen und richtungsweisenden ‹Kriegserfahrung›» (so Wegmanns Schlussfolgerung).50 Zwar wurden im Verlaufe der 1970er-Jahre aussenwirtschaftspolitische Faktoren etwas stärker berücksichtigt. Doch von der Armeekonzeption 1966 über die Berichte zur Gesamtverteidigung von 1970 und 1973 bis hin zum Zwischenbericht 1979 sowie zum Bericht über die Friedens- und Sicherheitspolitik von 1988 lässt sich sagen, dass sie «um den Preis inhaltlicher Unschärfe und Unverbindlichkeit versuchten […] einen überparteilichen Konsens herzustellen» und dabei «oft als Referenz im innenpolitischen Kampf um Ressourcen» dienten.51

      Im 21. Jahrhundert wurden diese Problemstellungen deutlicher freigelegt. In einer konzisen Abhandlung zur «Rohstoffpolitik als Sicherheitspolitik» arbeiteten Henrique Schneider und Hans-Ulrich Bigler die zentrale Bedeutung «weltweiter Rohstoff-Austauschketten» heraus, die einerseits Wohlstandsgewinne ermöglichen und andererseits eine steigende Verletzlichkeit implizieren.52 Die Autoren würdigen die bundesrätlichen Vorschläge zur Energiewende, konstatieren darin jedoch einen «logischen Fehler»: «Versorgungssicherheit wird nicht mittels Importen gewährleistet. Die Frage muss umgekehrt lauten, nämlich: Wie kann man Versorgungssicherheit