Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
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      Von den kriegswirtschaftlichen und aussenhandelspolitischen Herausforderungen des Weltkrieges gleichermassen überfordert: Bundesrat und Armeeführung im Ersten Weltkrieg (Bild: BAR, wikimedia).

      Diese Reflexionsschwäche zeigte sich auch im Bundesrat. Hier fand die Meinung Resonanz, Deutschland werde diesen Krieg schliesslich gewinnen und die Schweiz müsse sich in einem längeren Krieg auf Gedeih und Verderb einer Kriegspartei anschliessen (was nach dieser Logik nur die deutsche sein konnte).18 Diese Überzeugung war allerdings rasch im Abklingen, weil bei der politischen Exekutivbehörde inzwischen das Sensorium für den Handlungsspielraum und die flexiblen Optionen der schweizerischen Aussen(wirtschafts)politik zugenommen hatte. Bundesrat Arthur Hoffmann hatte im Frühjahr 1915 gegenüber Alfred von Planta, ein Jahr zuvor noch Nationalratspräsident und nun Gesandter in Rom, erklärt, leider würden sich nicht nur «Chauvinisten» und «Leute, die einen gewissen Stich ins Grossmannssüchtige haben» durch eine Kriegsbeteiligung der Schweiz territoriale Zugewinne und wirtschaftlichen Nutzen erhoffen. Dies seien jedoch «gefährliche Zukunftsträume», vor allem deshalb, weil die Aussicht auf Gebietsmehrung die Schweiz «innerlich auseinanderjagen» würde.19 Diese staatspolitisch bedrohlichen zentrifugalen Kräfte und auch der sich rasch verschärfende Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz (hier «le fossé» genannt) konnte nur moderiert werden, wenn an der Neutralität festgehalten und ein vertragliches Arrangement mit den beiden kriegführenden Allianzen gesucht wurde. Deshalb forderte Hoffmann eine «recht nüchterne, zurückhaltende Politik» und unterstützte die SSS (im Volksmund als Souveraineté Suisse suspendue verspottet). Wenn die Alliierten die wirtschaftlichen Kontrollschrauben zudrehten, blieben, wie er plastisch festhielt, der Schweiz nur drei Optionen: verhungern, kämpfen oder akzeptieren.20 Wurde das Problem auf diese Weise pragmatisch gestellt, so leuchtete das Akzeptieren unmittelbar ein.

      II.

      In einer Rückblende auf die Vorkriegsjahre wird im Folgenden aufgezeigt, wie die wirtschaftliche Problemdiagnose der Schweiz unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg aussah und welche Erkenntnisse, welches Wissen um die Verflechtungen der Schweiz damals vorhanden waren. Generell ist festzustellen, dass der Begriff der «Landesverteidigung» damals zwar verwendet wurde, jedoch weit hinter jenen der «Kriegsbereitschaft» und der «Vorbereitung auf den Kriegsfall» zurücktrat. Das hing auch damit zusammen, dass die damaligen Autoren den Status der «bewaffneten Neutralität» als nur eine und möglicherweise rasch unhaltbar werdende Option betrachteten.

      Der Eindruck, dass die Schweiz sich unter finanziell-wirtschaftlichen Aspekten erst relativ spät auf eine Kriegseventualität vorbereite, fand in den Jahren vor 1914 weithin Zustimmung. 1910 publizierte der Ökonom Julius Frey (der ein Jahr darauf Präsident der Schweizerischen Kreditanstalt wurde und dieses Amt bis 1925 innehatte) in Raschers Jahrbuch einen Aufsatz zur «finanziellen Kriegsbereitschaft der Schweiz», worin er einleitend den Staatsmann Raimondo Graf Montecuccoli zitierte («Zum Kriegsführen braucht es vor allem drei Sachen: in erster Linie Geld, in zweiter Linie Geld und in dritter Linie Geld.») und dann auf die reichhaltige Literatur zu diesem Thema in Deutschland hinwies. Für die Schweiz stellte er ein völliges Fehlen einschlägiger Analysen fest; es sei ihm nicht bekannt, dass das Thema in der Schweiz «schon einmal öffentlich besprochen worden wäre».21 Frey situiert die Aufgabe der Kriegsfinanzierung in einem sehr engen Rahmen. So wird die Erhöhung der Steuereinnahmen erst auf der letzten Seite angesprochen, dies mit der doppelten Feststellung, dass «die Kriegsausgaben des Staates schliesslich entweder durch Steuern aufgebracht oder in einem Anleihen konsolidiert werden müssen» und dass gleichzeitig «bei unseren schweizerischen Verhältnissen, wo die Eidgenossenschaft aller direkten Steuern entbehrt» eine «Deckung durch Steuern […] immer nur zu einem kleineren Teil möglich sein» würde.22 Von der militärischen Zielsetzung her war Frey hingegen offen. Er wollte «die finanzielle Seite der Kriegsvorbereitung und Kriegführung nicht etwa bloss für den Fall einer sogenannten Grenzbesetzung ohne eigentliche kriegerische Verwicklung unseres Landes selbst […] beleuchten, sondern vielmehr für die Eventualität, dass wir selbst zur Wahrung unserer Unabhängigkeit das Schwert ziehen müssen». Denn «mit gutem Grund» sind «ja unsere militärischen Kriegsvorbereitungen […] durchaus auf diesen letztern Fall zugeschnitten!»23 Frey fokussierte fast vollständig auf die Notwendigkeit, bei einem Kriegsausbruch und einer Generalmobilmachung der Schweizer Armee rasch beträchtliche Finanzmittel aufbringen zu müssen – es ging ihm primär um die «ersten Tage» und als Eventualität um «mehrere Wochen».24

      Zwei Jahre darauf legte der Ökonom und damalige Generalsekretär der 1907 gegründeten Schweizerischen Nationalbank, Adolf Jöhr, eine Schrift zur «Volkswirtschaft der Schweiz im Kriegsfall» vor, die umfassender angelegt war und worin er einleitend schrieb: «Die Vorsorge für den Fall eines Krieges ist in einem Land von der verkehrsgeographischen, volkswirtschaftlichen und politischen Lage der Schweiz eine Angelegenheit von so hohem Ernste, dass sie ebenso sehr die Aufmerksamkeit aller Behörden, aller Leiter von industriellen Unternehmen, Banken und Handelshäusern verdient, wie die der militärischen Kreise; sie neuerdings und nachhaltig auf diese Fragen zu lenken, ist der wichtigste Zweck meiner Arbeit.»25 Jöhr strebte Wissenstransfers zwischen Wirtschaft, Politik und Militär an und versuchte, die nationale Elite für äussere Abhängigkeiten zu sensibilisieren.

      Jöhr unterscheidet drei «Kriegseventualitäten»: erstens einen Krieg zwischen zwei Ländern, die nicht beide an die Schweiz grenzen; ein solcher wäre ohne direkten Belang; zweitens – und am wahrscheinlichsten – ein Krieg «mit allen vier Grenzländern», der die Schweiz «aufs tiefste in Mitleidenschaft» ziehen würde. Denn wirtschaftlich würde sie «nahezu das Schicksal derjenigen Gebiete ihrer Nachbarmächte teilen, die nicht direkt vom Krieg heimgesucht werden». Drittens dann eine direkte Involvierung der Schweiz in die Kriegshandlungen – in einem solchen Falle hörte aber, so der Autor, «jedes Prophezeien auf».26

      Jöhrs Empfehlungen und Beobachtungen fokussieren auf drei grundlegende Punkte: erstens die materielle und finanzielle Kriegsvorbereitung der Eidgenossenschaft. Dem Geld- und Bankwesen stellte er, abgesehen von der nach wie vor bestehenden Abhängigkeit von Frankreich bei der Silberzufuhr, insgesamt gute Noten aus. Im Unterschied zu 1870/71 – er betrachtete den deutsch-französischen Krieg generell als Referenzereignis – sei die Schweiz, insbesondere seit der Gründung der SNB mit ihrem «elastischen Notenausgaberecht» und aufgrund soliderer Bundesfinanzen, vorteilhaft gewappnet. Jöhr sah allerdings in der Landesversorgung, speziell beim Brotgetreideimport sowie der Vorratshaltung, Schwachpunkte und forderte prospektive Vorkehrungen. Auch bei kurzer Kriegsdauer würden «viele Familien […] hilfsbedürftig» werden. Es müssten Massnahmen wie Notunterstützung und, in extremis, Volksküchen vorbereitet werden. Gegen die Teuerung bei unentbehrlichen Gütern seien Ausfuhrverbote zu verhängen.27

      Zweitens ging er von der Prämisse der «Neutralitätsbehauptung» aus. Das heisst, er nahm an, dass es der Schweiz gelingen könne und müsse, die «Kriegseventualität zwei» durchzuziehen, sich aus den Kriegshandlungen herauszuhalten. Die Zuversicht schöpfte er aus dem generellen Do ut des der Aussenwirtschaftsbeziehungen, aus der Flexibilität der Handelsverträge, aus der Bedeutung der Eisenbahnverbindungen und Alpentransversalen sowie aus den Möglichkeiten, unter erschwerten Bedingungen die Landesversorgung via Nachbarländer und auf dem Weltmarkt generell sicherzustellen. Jöhrs Vertrauen in die Fähigkeit des von Kriegführenden umgebenen kleinen Staates, sich nützlich, ja unverzichtbar zu machen und sich agil zu arrangieren, war allerdings nicht grenzenlos. So zog er, drittens, einen in den Zustand völliger Ungewissheit hineinführenden militärischen Angriff auf die Schweiz in Betracht und führte, als «Schlussbemerkung» zu den Ergebnissen seiner Studie, an: «Alle finanzielle und wirtschaftliche Vorsorge wäre vergebens, wenn das Heer versagen würde.»28

      Im Nachhinein – und die Geschichtswissenschaft ist gleichsam dazu verdammt, mit dieser Möglichkeit der Rückschau produktiv umzugehen – fällt auf, dass Jöhr sich wenig mit der Frage der Kriegsdauer befasst. Er schildert eher ein Dispositiv als einen Plan. Die von so unterschiedlichen Köpfen wie Friedrich Engels 1887 und Helmuth von Moltke 1890 erstellten