Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
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die weiteren Dispositionsmöglichkeiten des Oberbefehlshabers nicht ein.

      Die Mobilmachungsaufstellung der Schweizer Armee bei Kriegsbeginn.

      Die militärische Strategie der Schweiz ergab sich nun aus einer Anzahl politischer und militärischer Vorentscheide. Auf der Grundlage einer expliziten Neutralitätserklärung bei Kriegsbeginn verfolgte das Armeekommando erstens eine defensive Strategie, welche erst militärisch aktiviert werden sollte, wenn eine fremde Armee auf Schweizer Territorium eingefallen wäre beziehungsweise zugunsten eigener militärischer Zielsetzungen versucht hätte, ihren Hauptgegner über Schweizer Territorium anzugehen. Zweitens gedachte die Schweizer Armeeführung ab Grenze jedem Invasoren entgegenzutreten und diesen mit in Reserve gehaltenen Kräften so lange aufzuhalten, bis dessen Hauptgegner der Schweizer Armee zu Hilfe eilen und zusammen mit dieser den Eindringling zurückwerfen würde. Drittens beabsichtigte die Schweizer Armeeführung dieses strategisch defensive Ziel operativ und taktisch angriffsweise zu verfolgen, um den Gegner möglichst lange hinzuhalten, bis die «fremde Hilfe» eintreffen würde.6 Diese strategischen und operativen Grundlagen wurden nicht plakativ kommuniziert, waren aber in der reichen militärischen Zeitschriftenliteratur des langen 19. Jahrhunderts nachzulesen. Landesverteidigungspläne gab es seit den frühen 1890er-Jahren keine mehr. Der Oberbefehlshaber sollte grundsätzlich frei sein, ab Mobilmachungsdispositiv diese Grundsätze in eigenen Entschlüssen umzusetzen.7

      Manifeste Lagebeurteilungen und operative Absichten 1914–1918

      Wie gestalteten sich nun die Lagebeurteilung und der Aufmarsch-Entschluss der Armeeführung im August 1914?

      Wie der Abbildung 2 zu entnehmen ist, befahl das Armeekommando dem Heer noch während des Marsches in die Mobilmachungsaufstellung eine Schwergewichtsbildung beziehungsweise einen Aufmarsch im Nordwesten der Schweiz.

      Generalstabschef von Sprecher hat das im Aktivdienstbericht so umschrieben:

      «Schon wenige Tage nach der Durchführung des ersten Aufmarsches veranlassten die im Oberelsass vor sich gehenden Kämpfe zwischen der nach Mülhausen vorgedrungenen französischen Gruppe und der deutschen 7. Armee (Erste Schlacht bei Mülhausen) das Armeekommando zu einer weiteren Bereitstellung mobiler starker Heeresteile im mittleren Aaretal, um zu raschen Operationen an irgend einem Teile der Jurafront bereit zu sein. Es wurden daher die 1. und die Masse der 6. Division herangezogen und unter dem Kommando des 2. Armeekorps eine neue Heeresgruppe bereitgestellt, während [deren ursprüngliche, d. Autor] Aufgabe dem neu aufgestellten Armeekorps-Kommando 3 überwiesen wurde.»8

      Es wurden also – nach Sprecher – zwei starke Heeresgruppen gebildet: Das 1. Armeekorps hatte die Aufgabe, einen Gegner grenznah abzufangen und zu verzögern. Das 2. Armeekorps hatte die Aufgabe, wenn möglich zusammen mit dem Feind des Feindes den Eindringling zu stoppen und abzukämpfen und sich dabei an die Befestigungen Murten und Hauenstein anzulehnen. Dies war die operative Absicht. Das weit schwächere 3. Armeekorps hatte dagegen die Sicherung der Südgrenze vom Genfersee bis zum Piz Buin zu übernehmen. Diese Armeeaufstellung wurde insgesamt einen ganzen Monat aufrechterhalten. Ab 29. August 1914 begann sodann ein in der Gesamtstärke wechselnder Ablösungsturnus bis Ende des Aktivdienstes, wobei später gleichzeitig nie mehr als rund zwei bis drei Divisionen Dienst leisteten. Die Lagebeurteilungen im weiteren Zeitraum von 1914 bis1918 änderten nichts mehr an diesem Grunddispositiv, es wurden nur Retuschen und Anpassungen vorgenommen.9 Es gab also keine weitere Generalmobilmachung mehr, keinen grundsätzlich neuen Armeeaufmarsch und auch keine grundsätzlich neue operative Absicht.

      Aber es war nicht so, dass die Armeeführung zwischen dem August 1914 und dem November 1918 sich nichts mehr ausdachte und nicht auf sich anbahnende neue Lagen reagierte und keine Eventualplanungen unternahm.

      Der Armeeaufmarsch gemäss «Konzentrationsbefehl» vom 12. August 1914.

      Lageentwicklungen und Eventualplanungen 1915–1918

      Im Januar 1915 wurde die Kavallerie-Division des 1. Armeekorps aufgelöst und die Verbände entlassen. Auch die Stäbe der Armeekorps 1 und 2 wurden nach Hause geschickt. Offenbar erwartete das Armeekommando aus Westen keine unmittelbare Bedrohung. Diese Situation gab nun Anlass zu allerhand Gedankenspielen. Im Juli hielt Generalstabschef Sprecher nach dem Kriegseintritt Italiens und den «Erfolge[n] der Zentralmächte an der Ostfront in zwei bis drei Monaten eine Offensive an der West- und Südfront» für möglich.10 Hinsichtlich der Bedrohung im Süden sah er die «nationalen Begehrlichkeiten dieses skrupellosen Staates Italien» für besonders gefährlich an und schlug eine Kräfteverschiebung an die West- und Südgrenze vor, um eine allfällige Gebirgsfront gegenüber Italien auf alle Fälle halten zu können.11 Dabei supponierte er ein Engagement der Deutschen gegen Frankreich an der Westfront und einen Diversionsangriff der Franzosen über die Schweiz, weil, «wie die militärische Lage heute ist, wir sicher sein können, bei drohendem Angriff von Westen die Hilfe Deutschlands zu erhalten, die notwendig ist, um auf diesem unserem Hauptkriegsschauplatz nicht nur standzuhalten, sondern offensiv vorzugehen.»12

      General Wille hielt dagegen von den Überlegungen, wie die Kräfte an den verschiedenen Fronten zu dosieren wären, nichts und hielt die Lage im September 1915 für beruhigt. Er liess die Befestigungsarbeiten im Tessin einstellen, so wie er bereits gegen Ende 1914 die Arbeiten bei Les Rangiers hatte einstellen lassen.

      In diesen Kontext muss auch der eingangs erwähnte Säbelrassler-Brief gestellt werden. Wille hat ihn am 20. Juli 1915 verfasst, also in einer Zeit, als die Dinge militärisch für die Zentralmächte zu laufen schienen, die Alliierten aber bereits auf die Karte Wirtschaftskrieg gesetzt hatten und die Schweiz zwangen, ihre Importe und Exporte kontrollieren zu lassen. In einer Lagebeurteilung vom 30. Juli hielt der Generalstabschef im selben Sinne fest, dass ein Gang über Schweizer Territorium bei einer deutschen Westoffensive eigentlich nur Frankreich strategische Vorteile bieten könne, falls die Vermehrung der Truppenbestände bei der Entente weitergehe.13 Ein Zusammengehen mit den Deutschen wurde also nur nach einem Angriff Frankreichs in Erwägung gezogen. Ein Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reiches ohne vorherige Neutralitätsverletzung war in keiner Weise vorgesehen, und es gibt keinerlei Hinweise, dass auch nur minime Planungsarbeiten dazu in Angriff genommen wurden.

      Im Januar 1916 machte sich Wille sodann im Vorfeld der deutschen Offensivplanungen für die Westfront, die zeitweilig einen Angriff entweder über Belfort oder Verdun vorsahen, folgende Gedanken zu einer möglichen Bedrohung der Schweiz: Das «auf allen Kriegsschauplätzen bis dahin überlegene Deutschland [bedürfe] eines starken siegreichen Schlages gegen Frankreich», also könne eher von dort eine Umgehung über die Schweiz angenommen werden. Er hielt jedoch treffend fest, dass weder Frankreich noch Deutschland die nötigen Kräfte hätten, um eine solche Diversionsaktion in Szene zu setzen.14 Gegen Ende des Jahres 1916 wurden die Truppenbestände weiter zurückgefahren. An der Nord-West-Front standen nur noch 11 Bataillone. Dies veranlasste Wille zur Aussage, dass wir «in unserer gegenwärtigen Verfassung vollständig wehrlos wären, selbst ohne strategischen Überfall». Nur eine erneute Gesamtmobilmachung könne dies ändern.15

      Um die Jahreswende 1916/17 wurde in der Schweizer Presse die Möglichkeit von französischen und vor allem deutschen Operationen über Schweizer Territorium intensiv behandelt. In der Literatur wird angemerkt, dass es zu einer «eigentlichen Kriegspsychose» gekommen sein soll, die absichtlich von Frankreich geschürt wurde, um gegen Deutschland Stimmung zu machen.16 Bereits angelaufen waren im Nachgang zur Oberstenaffäre die schweizerisch-französischen Generalstabsgespräche beziehungsweise Eventualallianzabsprachen. In der ersten Jahreshälfte 1917 kam es im Zusammenhang mit der Entwicklung an der Dolomiten-Front auch zu intensiveren Gesprächen zwischen dem österreichisch-ungarischen und dem schweizerischen Generalstab, welche zu einem Geheimabkommen (19. Juni 1917) über eine mögliche Kooperation