Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
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      Von grösserem Interesse ist nun, wie Wille und von Sprecher nach mehr als zweieinhalb Kriegsjahren beziehungsweise nach der Erfahrung der grossen Materialschlachten von 1916 bei Verdun und an der Somme bei einem Einfall der französischen Armee oder des deutschen Heeres operativ vorgehen wollten. Also in etwa zeitgleich, als die Nivelle-Offensive am Chemin des Dames geplant wurde und die Deutschen sich auf das Abfangen dieses französischen Angriffs einstellten. Sprecher stützte sich bei seinen Überlegungen auf Studien und Konzepte des im Februar 1917 ernannten Unterstabschefs Emil Sonderegger. Dieser liess in seine Studien selektiv jene Beobachtungen einfliessen, die Schweizer Offiziere in ihren Berichten von den Schauplätzen des Weltkrieges bis anhin zusammengetragen hatten.18 Sondereggers operative Vorbereitungen gingen sodann von Verteidigungslinien und verzögernden Kämpfen ab Landesgrenze auf allen Einfallachsen aus. Zwei Verteidigungslinien wurden dabei ins Auge gefasst: Les Rangiers–Jolimont–Thun und Wasserberg–Hauenstein–Napf.19

      Diese operativen Studien wurden im Laufe des Jahres unter anderem in einer operativen Übung für die Fälle West und Nord vertieft. Nachdem Russland im Herbst 1917 aus dem Krieg ausgeschieden war, sah Generalstabschef Sprecher «Frankreichs Hoffnung dahinschwinden» und mahnte erneut, «gut gerüstet bereitzustehen»:

      «Nach den Erfahrungen dieses Jahres darf eine solche Stellung nicht nur linear sein, sondern sie muss eine gewisse Tiefe haben und es müssen die aufeinander folgenden Linien durch seitliche Verriegelungen verstärkt und durch bombensichere Unterstände ergänzt werden. Es sollte deshalb zum mindesten das vollständige Gerippe der Stellungen, deren Tracé auf der ganzen Front durch Pikettierung und Vorgraben festgelegt und das Material an Ort und Stelle geschafft werden, damit nötigenfalls die Truppe, bei plötzlichem Aufgebote, sofort mit dem Ausbau beginnen könnte.»20

      Die Kredite für das Material seien zum Teil bereits gewährt; wenn der Bundesrat die Ergänzungskredite bei Bedarf nicht sprechen würde, sei die Armeeleitung aus der Verantwortung, so von Sprecher. Wille stand dem allem grundsätzlich ablehnend gegenüber. Er hielt eisern an seinen längst vor dem Weltkrieg formulierten Grundsätzen fest: Er wolle keine bindenden Planungsvarianten und zusammen mit dem Feind des Feindes über den Aufmarsch situativ befinden: «Wo wir uns sammeln, das hängt davon ab, wann unser Alliierter über den Rhein kommen kann; ob wir uns sammeln […] das kann durch spätere Besprechungen geklärt werden; auch dafür ist das Planen und Handeln unseres grossen Alliierten bestimmend.»21 Dieser grosse Alliierte kam über den Rhein, wohlgemerkt. Wille wollte dem Gegner in der konzentrierten Feldschlacht begegnen, auch weil er den Grabenkrieg für die grösstenteils aus der Beurlaubung kommende Milizarmee für ungeeignet hielt: «Die Entscheidung muss in der offenen Feldschlacht des Bewegungskrieges gesucht werden, alle Faktoren für den Grabenkrieg, in dem unsere Gegner sich jetzt 2½ Jahre eingeübt haben, fehlen uns, oder sind wenigstens bei uns sehr unvollkommen und unfertig vorhanden.»22

      Operative Studien des Unterstabschefs Emil Sonderegger aus dem Jahr 1917.

      Hans Rudolf Fuhrer spricht treffend davon, dass «die grundsätzlich polaren Positionen in der Befestigungsfrage, der Kampfweise und der Unplanbarkeit des Krieges» zwischen Wille und von Sprecher wieder bezogen waren.23

      Dass die Schweiz nicht über längere Zeit einen Graben- und Abnützungskrieg führen konnte, darin lag Wille sicher richtig. Das industrielle Potenzial dazu fehlte völlig, es war ja nicht einmal für die grosse Feldschlacht genügend Munition vorhanden.24

      Für Wille war es aber auch nicht begreifbar, dass Kriege durch industrielle Potenziale entschieden werden konnten. Sein ceterum censeo war «Erziehung und Ausbildung», wann immer er Bauarbeiten einstellen liess. So wie er der Aussage Bundesrat Schultheissens im August 1914, Deutschland werde den Krieg an der Wirtschaftsfront verlieren, mit Vehemenz entgegentrat, rechnete er den Deutschen in seinen Kriegslehren von 1924 vor, sie hätten es an der Marne so machen müssen wie 1870 und mehr «Manneswesen» zeigen müssen.25 Er glaubte daran, dass die besser erzogenen und besser geführten Soldaten den Krieg gewinnen werden, so wie die Deutschen 1914 und 1939 daran glaubten, die besseren Soldaten und Offiziere würden den Krieg gewinnen.

      Nach 1917 ergab sich keine Lageentwicklung mehr, welche Umdispositionen der nur noch schwach mobilisierten Armee erfordert hätten und die operativen Absichten beziehungsweise Positionen nochmals grundlegend in Frage gestellt hätten. Daran änderten auch die 1918 auf Divisionsstufe durchgeführten Experimente mit Sturmabteilungen und die Konterrevolutionsplanungen des Unterstabschefs de Perrot nichts.26

      Ein grundlegender Konsens wirkte jedoch bis im Juni 1940 nach: Die Schweizer Armee ist auf einen Allianzpartner angewiesen, wenn sie gegen einen ernsthaften Gegner bestehen will.

      Anmerkungen

      1 Wille, Ulrich: Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst 1914/18, Zürich 1919.

      2 Siehe dazu: Rapold, Hans: Der Schweizerische Generalstab. Zeit der Bewährung? Die Epoche um den Ersten Weltkrieg 1907–1924, Volume V, Basel 1988; Fuhrer, Hans Rudolf: Die Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Bedrohung, Landesverteidigung und Landesbefestigung, Zürich 1999; Sprecher, Daniel: Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg, Zürich 2000.

      3 Kurz, Hans Rudolf: Dokumente der Grenzbesetzung 1914–1918, Frauenfeld 1970, S. 108.

      4 Fuhrer, Hans Rudolf: «Geheime Anschläge der Habsburger gegen die schweizerische Neutralität», in: Kriechbaumer, Robert; Mueller; Wolfgang; Schmidl, Erwin A. (Hg.): Politik und Militär im 19. und 20. Jahrhundert. Österreichische und europäische Aspekte. Festschrift für Manfried Rauchensteiner, Wien 2017, S. 89.

      5 Rapold, Generalstab, S. 227.

      6 Rapold, Generalstab, S. 163, S. 180, S. 227.

      7 Rapold, Generalstab, S. 227; ders.: Strategische Probleme der schweizerischen Landesverteidigung im 19. Jahrhundert, Frauenfeld 1951, S. 156.

      8 Wille, Bericht, S. 145.

      9 Fuhrer, Schweizer Armee, S. 331–339.

      10 Rapold, Generalstab, S. 216.

      11 Zit. nach Rapold, Generalstab, S. 216.

      12 Zit. nach ebd., S. 217

      13 Ebd.

      14 Zit. nach ebd.

      15 Zit. nach ebd., S. 218.

      16 Ebd., S. 179.

      17 Fuhrer, Anschläge, S. 89.

      18 Fuhrer, Armee, S. 251.

      19 Ebd., S. 251 ff.

      20 Zit. nach ebd., S. 264.

      21 Zit. nach ebd., S. 253.

      22 Zit. nach ebd.

      23 Ebd.

      24 Wille, Bericht, S. 257–275.

      25 Wille, Ulrich: «Kriegslehren», in: Gesammelte Schriften, Zürich 1914, S. 587.

      26 Olsansky, Michael: Die Sturmabteilung Mariastein 1918, Ms. GMS-Dokumentation Reise 25–2016, 28. Oktober 2016; Jaun, Rudolf; Straumann, Tobias: «Durch fortschreitende Verelendung zum Generalstreik? Widersprüche eines populären Narrativs», Der Geschichtsfreund 169 (2016), S. 36.

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